Was Babymorde über die Gesellschaft sagen

Von Ulrike Sommerer
Ein guter und enger Kontakt zwischen Mutter und Kind ist wichtig, um auch die Kinder der Kinder wieder sicher aufwachsen lassen zu können, ist Hebamme Silke Vollrath überzeugt. Als Hebamme hilft sie bei Vorsorge, bei der Geburt und der Nachsorge in den Familien, hier bei Katharina Schirmer mit Töchterchen Lotta, mit, Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Foto: Andreas Harbach Foto: red

Eigentlich hat Hebamme Silke Vollrath damit zu tun, Menschen ins Leben zu helfen. Und trotzdem, vielleicht gerade deshalb, weiß sie aber auch um die Nöte von Frauen, die dieses Leben nicht wollen. Und töten.

 
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Bis Weihnachten sprechen wir jeden Tag über ein Bibelzitat, das Pfarrer Otto Guggemos ausgesucht hat. Die heutige Bibelstelle:

 

„Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte.“

Matthäus 2,16

 

Was treibt Menschen an, ein Kind zu töten?

Silke Vollrath: Das ist auch heute ähnlich wie bei Herodes: Angst. Angst vor Konsequenzen. Dass sich das Leben verändert, man den Job verliert, dass ein Seitensprung ans Licht kommt, oder Gewalterfahrung sichtbar wird. Vielleicht auch Angst vor der Gesellschaft, die lästern könnte, warum denn schon wieder ein Kind kommt, obwohl doch schon fünf da sind. Wenn eine Frau durch ihre Eltern Ablehnung erfahren hat, fehlt ihr die eigene Wertschätzung. Und dann kann sie auch dieses Kind, das sie bekommt, nicht wertschätzen.

Das heißt, wenn ich mich selbst nicht angenommen fühle, kann ich auch mein Kind nicht annehmen…

Vollrath: Genau. Wenn ich immer erfahren habe, dass ich nichts wert bin, kann ich auch dem Kind nicht vermitteln, dass es etwas wert ist. Frauen, die ihr Neugeborenes töten, sehen für sich keine andere Lösung. Wenn sie rational denken würden, würden sie sich ja Hilfe suchen.

Aber man könnte das Kind ja auch zur Adoption freigeben, wenn man es nicht will.

Vollrath: Für so eine Lösung muss man logisch denken.

Aber diese Lösung wäre doch naheliegend…

Vollrath: Diese Frauen verdrängen die Schwangerschaft. Weil sie sich sonst mit etwas Nicht-Gutem auseinander setzen müssen. Wer ungewollt schwanger wird und sich entschließt, das Kind auszutragen und zur Adoption freizugeben, oder sich entschließt, das Kind abzutreiben, der hat sich mit seinem Problem auseinander gesetzt. Aber bei diesen Frauen wird der Gedanke an eine Schwangerschaft und ein Kind bis zum Schluss verdrängt. Dann kommt die Geburt, dann lässt sich nichts mehr verdrängen. Und dann kommt Panik. Die Frauen sind in einer psychischen Ausnahmesituation. Das ist eine Kurzschlusshandlung. Sie haben vielleicht Angst, dass das Baby schreien könnte und alles auffliegt.

Bei den Babymorden in Wallenfels hat die Frau gleich acht Kinder getötet, die sie zur Welt brachte. Wie kann man so etwas achtmal tun?

Vollrath: Diese Frau ist aus dem Strudel nicht heraus gekommen. Vielleicht waren die Morde die Lösung, die sie für sich gefunden hat, das aus der Welt zu schaffen. Dass die Kinder alle von einem Vater sind, spricht ja für die Frau – in Anführungsstrichen. Aber wenn das eine normale Beziehung gewesen wäre, dann hätte das alles auch auffallen müssen. Hier ist die Wahrnehmung füreinander schon gestört. Auch die Wahrnehmung des Umfelds dieser Familie. Wichtig ist mir der Hinweis, dass solche Morde in allen gesellschaftlichen Schichten geschehen. Die Frau in Wallenfels ist ja in der Gesellschaft dort nicht aufgefallen, hat für ihre anderen Kinder gesorgt. Es gibt auch gebildete Frauen, die ihre Kinder nach der Geburt töten. Sie sind gebildet, haben aber ein Problem in der Kommunikation oder sind in ihrem Umfeld doch nicht so integriert, wie es scheint.

Wer hat Schuld, wenn so etwas passiert?

Vollrath: Nichts geschieht ohne Grund. Alles hat immer eine Vorgeschichte, die man meist nicht sieht. Das soll Kindermorde nicht entschuldigen, es soll sie erklären. So blöd es klingt: Manche Mütter machen das auch aus Verantwortung für ihre Kinder, sie wollen ihnen ein Leben, wie sie es führen, ersparen.

Welche Rolle spielen dabei die Männer?

Vollrath: Die Väter spielen bei der Entscheidung, ein Kind umzubringen, oft eine untergeordnete Rolle. Manchmal leben Mann und Frau in einer guten Beziehung, können aber über bestimmte Probleme nicht miteinander sprechen. Ein Kindermord geht in den wenigsten Fällen vom Mann aus. Ein Mann würde schon viel früher zum Beispiel zu einer Abtreibung raten. Oder später, als Vater, aus Überforderung ein Kind schütteln. Auch die Frauen planen so einen Babymord ja nicht. Das sind immer Kurzschlussreaktionen. Sie setzen sich gar nicht damit auseinander, dass sie schwanger sein könnten, finden für alles eine Erklärung.

Wer ein ungewolltes Kind abtreibt, verdrängt nicht?

Vollrath: Wer sich für eine Abtreibung entscheidet, hat sich mit der Situation auseinander gesucht. Hat rational gedacht und sich Hilfe gesucht. Ob die Entscheidung dann richtig war, oder nicht, ist die andere Frage. Wer ein Kind nach der Geburt tötet, hat gar nicht nach Hilfe gesucht, deshalb kann man solche Vorfälle leider auch nicht verhindern, egal wie viele Hilfsangebote man Schwangeren macht. Denn diese Frauen suchen gar nicht nach einer Hilfe, sie verdrängen ihr Problem.

Wie kann man eine Schwangerschaft denn verdrängen?

Vollrath: Die Frauen nehmen die Veränderungen an sich schon wahr, aber sie finden Erklärungen. Die Zunahme erklären sie damit, dass sie mehr gegessen haben, eine Zwischenblutung, die in der Schwangerschaft ja durchaus vorkommen kann, ist für sie ein Beweis dafür, nicht schwanger zu sein. Bei sehr jungen Müttern, die ihren Eltern eine Schwangerschaft verschweigen, fällt oft auf, dass sie es schaffen, gar keinen Bauch zu bekommen. Erst ab dem Zeitpunkt, wo sie die Schwangerschaft beichten, bricht es regelrecht aus ihnen heraus und sie bekommen über Nacht einen Bauch.

Sind Sie als Hebamme mit solchen Situationen konfrontiert?

Vollrath: In meiner Ausbildung in Würzburg hatte ich einmal einen solchen Fall. Da wurde eine Frau, die jahrelang ihren Mann, der im Wachkoma lag, gepflegt hat, von einem anderen schwanger. Sie lebte auch noch im Haus der Schwiegereltern und wollte auf gar keinen Fall, dass ihre Schwangerschaft auffliegt. Sie hat das Kind alleine zur Welt gebracht und in den Windeleimer des größeren Kindes gesteckt. Das ist nur aufgeflogen, weil die Plazenta der Frau nicht kam und sie wegen einer Entzündung ins Krankenhaus kam. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffe, mich um diese Frau zu kümmern. Als ich sie kennenlernte, war es eine ganz sympathische Frau. Sie hatte einfach keinen Ausweg gewusst. Mit der Verurteilung solcher Mütter kommen wir nicht weiter.

Wie kommen wir denn weiter?

Vollrath: Ein erster Schritt ist, dass wir die Situation auch von der anderen Seite beleuchten. Man ist immer schnell mit dem Verurteilen, will sich aber nicht mit dem Sumpf, der dahinter steckt, auseinandersetzen. Das ist auch eine Art von Verdrängung. Wer etwas ändern will, muss am Anfang allen Lebens beginnen, bei der Geburt. Wenn man von Anfang an eine gute und feste Bindung zwischen Mutter und Kind schafft, dann wird dieses Kind sicher aufwachsen und kann das später an die eigenen Kinder weitergeben. Diese Art von Unterstützung brauchen Frauen. Und das beginnt mit einer mitfühlenden Betreuung der Frauen in der Schwangerschaft, bei der Geburt und im Leben mit dem Kind. Das unterstützen wir im Klinikum Kulmbach zum Beispiel damit, dass die Neugeborenen sofort nach der Geburt ihren Müttern auf die nackte Haut gelegt werden, um Hautkontakt zu bekommen, den Herzschlag der Mutter hören. Und das zu einem Zeitpunkt wo der Körper der Mutter das Glückshormon Oxytocin ausschüttet. Die Neugeborenen bleiben so ungestört mindestens die erste Stunde. Das machen wir auch nach einem Kaiserschnitt.

Was sagen Babymorde über unsere Gesellschaft aus?

Vollrath: Dass wir keine offene Gesellschaft sind, wie das ganz oft nach außen transportiert wird. Man will doch gar nicht wirklich wissen, wie es dem anderen geht, auch wenn wir ständig fragen wie geht’s. Da ist sehr viel Oberflächlichkeit dabei. Damit fängt es doch schon an. Ein Leben mit Kind ist auch immer eine Belastung. Man wird sehr gefordert. Je mehr Unterstützung ich bekomme, und je angesehener dieser Job Mutter ist, umso besser. Hier ist auch wieder Wertschätzung das Schlüsselwort.

Muss sich hier etwas ändern?

Vollrath: Definitiv. Solange nicht angesehen wird, was Mütter leisten, fehlt auch hier der Gesellschaft ein Wert. Ehe man Eltern wird, weiß man nicht, wie wunderbar es ist, ein Kind zu haben, man weiß aber auch nicht, welche Verantwortung man da übernehmen muss. Sogar ich, die täglich damit konfrontiert war, war total überrascht, was es bedeutet, Mutter zu sein, als meine Tochter zur Welt kam.

Das Gespräch führte Ulrike Sommerer

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