Überzogene Erwartungen
In Syrien, erzählt Reichert, seien 67 Prozent der Einwohner nicht in der Lage, einen einfachen Text in ihrer Landessprache zu lesen oder zu schreiben. In Afghanistan sei die Analphabetenrate mit 56 Prozent doppelt so hoch wie in Syrien. „Das deckt sich mit den Erfahrungen, die wir in den Asylotheken machen.“ Die Erwartung, dass Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau in Deutschland sofort eine Ausbildung erhalten und diese auch abschließen, hält Reichert für überzogen. „Da sind auch viele Deutsche mit ähnlichem Bildungsgrad überfordert.“
Wirtschaft in die Pflicht nehmen
Günter Reichert sieht dennoch die Wirtschaft in der Pflicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte im September 2015 die DAX-Konzerne aufgerufen, Flüchtlinge einzustellen. Die Bilanz ein Jahr später: Die Dax-Konzerne beschäftigen erst 54 Flüchtlinge in Festanstellung - 50 davon bei der Deutschen Post. „Wenn wir die Wirtschaft nicht in die Pflicht nehmen, sehe ich schwarz“, sagt Reichert.
"Aktuell löschen wir Brände"
„Aktuell löschen wir Brände, aber schaffen keine nachhaltige Struktur.“ Das ist für ihn kein Grund, das Handtuch zu werfen. Mehr noch: Reichert denkt weiter, er denkt europäisch. „Ich bereite ein neues Projekt vor“, erzählt er. „Wir brauchen europäische Bildungscenter für Flüchtlinge, in denen sie fachspezifisch betreut werden, einschließlich Traumatherapien. Wir haben die Verpflichtung, ihnen unsere Werte zu vermitteln.“ Er möchte, dass die Menschen vor ihrer Einreise und der eigentlichen Integration, in Herkunftsländer geordnet, in europäischen Gastländern auf das europäische Wertesystem vorbereitet werden. „Einschließlich Sprachniveau und Bildungsniveau. So würden wir es schaffen.“
Zum Jahrestag der „Wir schaffen das!“-Rede der Bundeskanzlerin hat die Kurier-Redaktion mit Menschen in Oberfranken gesprochen, die täglich mit der Flüchtlingskrise zu tun haben. Aus ihren Geschichten ergibt sich ein komplexes Bild der Situation.
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