Günter Reichert, "Asylotheken"-Gründer, sieht die Integration gescheitert und die Wirtschaft in der Pflicht Asylothek: "So schaffen wir das nicht"

Von Susanne Will
Der Initiator der Asylothek, Günter Reichert, bei Schreibübungen mit Flüchtlingskindern in der Asylothek in Nürnberg. Foto: Timm Schamberger/dpa Foto: red

„Wir würden heute nicht über Burkas reden, wenn wir auf eine erfolgreiche Integration in den letzten 50 Jahren zurückblicken könnten.“ Das sagt Günter Reichert, der vor vier Jahren die erste Asylothek in Nürnberg gründete. Jetzt gibt es über 50 davon in Deutschland. Hier vermitteln Ehrenamtliche Flüchtlingen Deutsch und europäische Werte. Doch das genüge nicht, sagt Reichert: „Wir haben 2,7 Millionen Menschen, die wir integrieren müssen – aber nur 300 000 Integrations-Plätze.“

 
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Günter Reichert ist Architekt in Nürnberg, er wohnt auch in Pottenstein. Seine Idee der Asylotheken – eine Art offene Bücherei in Asylbewerberheimen, in denen Sprache, Bildung und Kultur vermittelt wird – wurde mehrfach ausgezeichnet, auch mit dem Bürgerpreis des bayerischen Landtags.

Als er die erste Asylothek gründete, reisten  in Deutschland jährlich 87 000 Flüchtlinge ein. „Von den 2,1 Millionen Menschen, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, waren 1,1 Millionen Flüchtlinge. Dazu kamen die, die innereuropäisch die Grenze nach Deutschland überschritten haben und die, die nicht registriert oder bereits abgelehnt wurden.“ So kommt er auf die Zahl von 2,7 Millionen Menschen.

Entscheidung fällt in den ersten neun Monaten

2,7 Millionen Einwanderer, die integriert werden müssen. „Dem stehen nur 300 000 Integrationsplätze gegenüber“, eine Rechnung, die für Reichert nicht funktionieren kann. „Denn wenn in den ersten neun Monaten nicht mit der Integration begonnen wurde, dann ist für uns der Mensch  nicht mehr oder nur mit erheblichem zusätzlichen Aufwand erreichbar.“ In den ersten neun Monaten entscheide sich, ob der Flüchtling sich in Deutschland sozialisiert, wenn er die Möglichkeiten dazu hat – oder ob er sich unter seinen Landsleuten integriert. „Das heißt: Sie bleiben in ihrer Sprache verhaftet und die Sozialisation findet in der Moschee statt. Damit verlieren wir viele wertvolle Mitglieder der Gesellschaft.“

"So, wie es jetzt ist, schaffen wir es nicht"

Günter Reichert: „So, wie es jetzt ist, schaffen wir es nicht.“ Was auch daran liege, dass die Regierung die Integrations-Arbeit  der Ehrenamtlichen als kostenfreie Selbstverständlichkeit hinnehme. „Und die werden uns in der Vielzahl bei einer weiteren Flüchtlingswelle nicht mehr zur Verfügung stehen“, prognostiziert Reichert. „Wir haben in Deutschland acht Millionen Menschen, die sich ehrenamtlich für Flüchtlinge engagieren. Maximal ein Drittel davon wird künftig weiterhin zur Verfügung stehen.“ Warum viele die Arbeit niederlegen, verdeutlicht Reichert an einem Beispiel: „Nehmen Sie einen Studenten, der sich im vergangenen Jahr engagiert hat. Der kann das kein zweites Jahr durchziehen, denn er braucht Geld für sein Studium. Statt dass er  für einen Mindestlohn in der Kneipe arbeitet, sollte er einen Mindestlohn für sein Ehrenamt im Flüchtlingsheim erhalten.“

"Wir haben unter den Einwanderen ein Bildungsproblem"

Als Günter Reichert mit seinen Asylotheken begann, warteten die 87 000 Flüchtlingen damals im Schnitt zweieinhalb Jahre auf einen Sprachkurs. „Als drei Jahre später die große Einwanderungswelle kam, hatte sich noch nicht viel verändert – und das sollen wir jetzt schaffen?“  Bisher 60 und aktuelle 100 Stunden Integrationsunterricht werden einem Flüchtling angeboten, „dann soll der Mensch integriert sein“, für Reichert langt das lange nicht. „Das funktioniert vielleicht mit einem Akademiker“. Doch er sieht es im Alltag: „Wir haben unter den Einwanderern ein Bildungsproblem.“

Überzogene Erwartungen

In Syrien, erzählt Reichert, seien 67 Prozent der Einwohner nicht in der Lage, einen einfachen Text in ihrer Landessprache zu lesen oder zu schreiben. In Afghanistan sei die Analphabetenrate mit 56 Prozent doppelt so hoch wie in Syrien. „Das deckt sich mit den Erfahrungen, die wir in den Asylotheken machen.“ Die Erwartung, dass Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau  in Deutschland sofort eine Ausbildung erhalten und diese auch abschließen, hält Reichert für überzogen. „Da sind auch viele Deutsche mit ähnlichem Bildungsgrad überfordert.“

Wirtschaft in die Pflicht nehmen

Günter Reichert sieht dennoch die Wirtschaft in der Pflicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte im September 2015 die DAX-Konzerne aufgerufen, Flüchtlinge einzustellen. Die Bilanz ein Jahr später: Die Dax-Konzerne beschäftigen erst 54 Flüchtlinge in Festanstellung - 50 davon bei der Deutschen Post. „Wenn wir die Wirtschaft nicht in die Pflicht nehmen, sehe ich schwarz“, sagt Reichert.

"Aktuell löschen wir Brände"

„Aktuell löschen wir Brände, aber schaffen keine nachhaltige Struktur.“ Das ist für ihn kein Grund, das Handtuch zu werfen. Mehr noch: Reichert denkt weiter, er denkt europäisch. „Ich bereite ein neues Projekt vor“, erzählt er. „Wir brauchen europäische Bildungscenter für Flüchtlinge, in denen sie fachspezifisch betreut werden, einschließlich Traumatherapien. Wir haben die Verpflichtung, ihnen unsere Werte zu vermitteln.“ Er möchte, dass die Menschen vor ihrer Einreise und der eigentlichen Integration, in Herkunftsländer geordnet, in europäischen Gastländern auf das europäische Wertesystem vorbereitet werden. „Einschließlich Sprachniveau und Bildungsniveau. So würden wir es schaffen.“

 

Zum Jahrestag der „Wir schaffen das!“-Rede der Bundeskanzlerin hat die Kurier-Redaktion mit Menschen in Oberfranken gesprochen, die täglich mit der Flüchtlingskrise zu tun haben. Aus ihren Geschichten ergibt sich ein komplexes Bild der Situation.

 

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