Gerade einmal die Hälfte des Caesiums ist zerfallen
Caesium 137 hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren. Gerade einmal die Hälfte davon ist also zerfallen. Es dauere zehn Halbwertzeiten, bis in etwa der frühere Zustand wieder hergestellt sei, sagt Hacker.
In Feldern ist das radioaktive Isotop hingegen ausgespült, mehrfach untergepflügt und in tiefere Schichten gewandert. Getreide, Gemüse, Salat oder Milch und Fleisch außer Wild sind ohne erhöhte Werte.
Stichproben des Landesamtes für Umwelt weisen dennoch bei Caesium 137 noch manchen Spitzenwert aus: Pilze aus Garmisch-Partenkirchen, gemessen am 18. Dezember 2015: Weißer Rasling 4900 Becquerel und Birkenpilz 3000 Becquerel pro Kilo. Wildschwein aus Nürnberg vom 17. September 2015: 1200 Becquerel. Oder vom 13. Mai aus dem schwäbischen Landkreis Ostallgäu: 2100 Becquerel.
Der Grenzwert liegt bei 600 Becquerel, nur 370 Becquerel pro Kilogramm dürfen es bei Milchprodukten und Babynahrung sein. Nahrungsmittel, deren Werte darüber liegen, dürfen nicht verkauft werden, sonst drohen Strafen. Jäger bekommen für belastetes Wild eine Entschädigung.
Das Bayerische Landesamt für Gesundheit teilt mit: «Nach einer Risikobewertung des Bundesinstitutes für Risikobewertung (BfR) gehört Wildbret wegen der niedrigen Verzehrsmenge zu den Lebensmitteln mit geringer Bedeutung.» Die Schweiz untersage die Weiterverarbeitung erst ab 1250 Becquerel. Auch das Landesamt für Umwelt entwarnt. «Die durch Tschernobyl verursachte Strahlenexposition von außen spielt heute praktisch keine Rolle mehr», teilt eine Sprecherin mit.
Die genauen Folgen: Niemand kennt sie. Die Kindersterblichkeit sei nach Tschernobyl signifikant erhöht gewesen, sagt Hacker. Auch von mehr Schilddrüsenerkrankungen werde berichtet. Ein Zusammenhang liege nahe, sei aber nicht erwiesen. Manches, glaubt Hacker, hätte vermieden werden können, wenn es die «Beschwichtigungspolitik» nicht gegeben hätte. «Die Behörden haben viel zu spät reagiert.»
Der damalige bayerische Umweltminister Alfred Dick (CSU) aß vor laufenden Kameras demonstrativ verstrahlte Molke, um die Ungefährlichkeit zu beweisen. Gewollt hat die Molke trotzdem niemand. Ein Geisterzug damit rollte lange durch Deutschland, ehe die Molke in einer eigens gebauten Anlage vernichtet wurde.
Unglück half den Grünen
In der Folge erstarkten die Grünen. Die Anti-Atombewegung formierte sich. Doch erst 25 Jahre später führte die Atomkatastrophe von Fukushima, obwohl sie Deutschland nicht direkt traf, zum parteiübergreifenden Bekenntnis zum Atomausstieg. Der geht den Umweltorganisationen viel zu langsam. Am Sonntag forderten Demonstranten vor dem Atomkraftwerk Isar 2 die sofortige Abschaltung. Gerade der Terror verschärfe die Gefahr, sagt Hacker. «Es gab immer wieder Hinweise, dass verschiedene AKWs ausgespäht worden sind. Insofern ist es umso wichtiger, dass man sich von der Atomenergie schleunigst verabschiedet.»
Chronologie:
28. April 1986: In Polen und Skandinavien wird enorm hohe Radioaktivität gemessen, die später in geringerem Ausmaß in Teilen Deutschlands und anderen Ländern Europas auftritt. Die sowjetische Nachrichtenagentur Tass gibt am Abend bekannt, dass sich im Atomkraftwerk Tschernobyl ein Unglück ereignet hatte.
29. April 1986: Die Stadt Prypjat mit 50.000 Einwohnern unmittelbar am AKW-Gelände wird geräumt. Bis heute ist sie eine Geisterstadt.
4. Mai 1986: Behörden beginnen mit der Räumung aller Orte in einer 30-Kilometer-Sperrzone. Insgesamt müssen 400.000 Menschen ihre Heimat verlassen.
6. Mai 1986: Das Moskauer Parteiorgan «Prawda» nennt erste Einzelheiten zum Unglück. Zugleich kritisiert das Blatt die Reaktion westlicher Staaten. In Deutschland verbieten mehrere Bundesländer den Verkauf von Freilandgemüse und untersagen die Benutzung von Sportplätzen.
14. Mai 1986: Kremlchef Michail Gorbatschow informiert mit einer Fernsehansprache zu Tschernobyl die Öffentlichkeit.
29. September 1986: In Tschernobyl geht Reaktorblock 1 wieder in Betrieb, die Blöcke 2 und 3 folgen im November.
15. November 1986: Nach fünf Monaten Bauzeit ist der Betonsarkophag als Schutzmantel um den Unglücksreaktor fertig. Regen, Frost und Sturm setzen dem 65 Meter hohen Provisorium zu. Später bilden sich mehr als 100 Risse, tragende Wände drohen einzustürzen.
15. Dezember 2000: Als letzter Reaktorblock geht Nummer 3 vom Netz. Für die Stilllegung von Tschernobyl bekommt die ukrainische Regierung 3,1 Milliarden DM (knapp 1,6 Milliarden Euro) von der EU.
26. April 2012: Der Bau einer Stahlhülle über dem mehrfach notdürftig sanierten Sarkophag beginnt. Die Kosten werden auf gut 2,1 Milliarden Euro geschätzt. Die 108 Meter hohe Hülle soll im November 2017 fertig sein und die Umgebung 100 Jahre lang vor Strahlung schützen.
Fakten und Zahlen:
- Insgesamt halfen rund 600.000 sogenannte Liquidatoren (zunächst vor allem Mitarbeiter des Kraftwerks und Feuerwehrleute), die Folgen der Katastrophe zu mindern.
- 134 der Arbeiter wurden so stark verstrahlt, dass sie an akuter Strahlenkrankheit litten. 28 von ihnen starben innerhalb von Tagen und Wochen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass insgesamt rund 2.200 Arbeiter vorzeitig an Strahlenschäden sterben werden.
- Etwa 116.000 Menschen wurden im Laufe des Jahres 1986 aus den umliegenden Gebieten in Sicherheit gebracht und umgesiedelt.
- Seit 1990 wurden mehr als 6.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs in Weißrussland, Russland und der Ukraine gemeldet - eine weit höhere Zahl, als statistisch gesehen zu erwarten wäre. Weil sich Schilddrüsenkrebs sehr gut behandeln lässt, starb nur etwa ein Prozent der Betroffenen an den Folgen der Krankheit.
- Abgesehen von den Schilddrüsenkrebs-Fällen ist laut WHO kein Anstieg der Krebsrate in den belasteten Gebieten festzustellen. Dabei muss man allerdings zwischen den klar messbaren Fällen und den Prognosen unterscheiden: In Modellrechnungen geht auch die WHO allein unter den Evakuierten und den Liquidatoren von etwa 4.000 Todesfällen wegen Strahlenschäden bis ins Jahr 2086 aus. Einige Studien und Berichte legen auch eine weit höhere Zahl von Krebs- und Leukämie-Erkrankungen nahe. Laut WHO ist dies aber nicht eindeutig festzustellen.
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