Morbide Schönheit der Sperrzone
Und sie spricht auch von all den Dingen und Eindrücken dazwischen: von der Schönheit der zeitlosen Landschaft in der Sperrzone, die wie eine „Kulisse aus einer anderen Welt“ wirke, „ein bisschen 'Blade Runner', ein bisschen 'I am Legend', eine apokalyptische Filmwelt irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang. Von jungen Ukrainern, die Geld damit verdienen, dass sie Video- und Computerspiele mit Szenen und Geschichten aus der Sperrzone programmieren, während ihre gleichaltrigen Nachbarn in Belarus Besuch kriegen vom Geheimdienst, weil sie ein Wort zu viel mit einem Ausländer über Tschernobyl gesprochen haben.
Vom Zonen-Tourismus, der die Industrieruine mit ein bisschen Abenteuer-Romantik als All-inklusive-Urlaubstour verkaufen lässt. Von selbsternannten Schamanen, die jenseits aller Wissenschaftlichkeit die Existenz von Radioaktivität kraft ihrer Gedanken zu besiegen glauben und damit lieber die Natur herausfordern als den Staat, der schon längst aufgegeben hat, für die Opfer der Katastrophe zu sorgen.
Anderer Umgang mit den Folgen der Katastrophe vor Ort
Zwei weitere dramaturgische Griffe machen Hilbks Buch so wahnsinnig wertvoll: Zum einen schreibt nicht nur sie selbst, sondern sie lässt auch ihre weissrussische Begleiterin Mascha, die als sogenanntes „Tschernobyl Baby“ 1986 in der Nähe des Kraftwerks geboren wurde, zu Wort kommen. Durch Maschas Blick wird deutlich, warum der Umgang der beiden Frauen miteinander, warum der gesamte östliche Umgang mit dem Thema Tschernobyl so anders und teilweise schwierig ist: weil diese zwei gegensätzlichen Staatssysteme solch starke kulturelle Unterschiede und Gesellschaften produzieren – bis hin zu dem Punkt, dass sie die Wahrheitssuche einer Journalistin ernsthaft behindern.
Vergleich mit Deutschland
Zum anderen vergleicht Hilbk,1969 geboren und so als Jugendliche durch die Grünen und die entstehende Anti-Atomkraft-Bewegung früh politisch geprägt, die Geschehnisse in der ehemaligen Sowjetunion stets mit denen in Deutschland, zeichnet die Geschichte von Initiativen wie „Kinder von Tschernobyl“ nach, die in den 90ern begann, Kinder aus dem Reaktorgebiet zur Erholung nach Deutschland zu schicken, spricht mit frühen Aktivisten, Politikern und Wissenschaftlern, beleuchtet auch den Umgang der ehemaligen DDR mit Atomkraft und zieht Parallelen zu politischem Handeln hier wie dort, ohne den oberlehrerhaften Zeigefinger zu erheben.
Immer ist noch genug Raum, dass man sich als Leser seine eigenen Schlüsse ziehen darf. Dieser lässt am Ende freilich wenig Interpretationsspielraum. Noch immer arbeiten rund 3000 Menschen im abgeschalteten AKW Tschernobyl. Sie sorgen dafür, dass das Werk nach und nach abgebaut wird. Wohin die verstrahlten Teile und Brennelemente kommen, erfährt man nicht.
Bittere Erkenntnis: Es gibt keine Auseinandersetzung vor Ort
Bitter ist die Erkenntnis des Buches: Noch immer setzen sich die meisten unmittelbar betroffenen Menschen nicht mit dem Unglück und dessen Spätfolgen auseinander. Hilbk macht hier indirekt drei Gruppen aus: Diejenigen, die keine andere Chance haben, weil sie entweder sehr arm sind oder als Illegale aus noch ärmeren Ländern wie Turkmenistan oder Kasachstan kommen. Sie ziehen in die Sperrzone, nehmen sich eins der leer stehenden Häuser und bauen weiter Gemüse an, gehen im Wald Pilze suchen.
Sie sehen, spüren, schmecken die Radioaktivität nicht, also kümmert sie diese auch nicht, oder sie denken, nach all den Jahren wird's doch schon wieder gut sein. Die zweite Gruppe sind diejenigen, die von der bewusst fehlgeleiteten beziehungsweise fehlenden Informationspolitik der Regierung schon mundtot gemacht oder im schlimmsten Fall durch KGB und Polizei zersetzt wurden, weil sie zu viel hinterfragt oder sich durch Engagement für das Weiterlaufen der Invalidenrenten etc. als zu aktiv gezeigt haben. Feinde des Sozialismus, denen es irgendwann nur noch ums nackte Überleben gehen muss und nicht um eine bessere Gesellschaft gehen kann.
"Man kann sich nicht aussuchen, wo einen das Leben hinstellt."
Die dritte und weitaus größte Gruppe sind diejenigen, die zwar um die Gefahren wissen, diese aber einfach vergessen wollen. Denen Heimat wichtiger ist als ihre Gesundheit, die sich zwar nicht von der Regierung fremdbestimmen lassen, ihr Land aber auch nicht verlassen wollen. Auch sie sind in vielen Fällen in ihre Dörfer in der Sperrzone zurückgekehrt. „Was soll man machen?“ sagt einer, mit dem Hilbk spricht. "Man kann sich nicht aussuchen, wo einen das Leben hinstellt." Und dieser Satz jagt dem westeuropäischen Leser den größten Schauer über den Rücken.
Das Buch:
Hilbk, Merle: Tschernobyl Baby. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2011. 280 S., 17,95 Euro.