Tschernobyl: Wo einen das Leben hinstellt

Von Kerstin Fritzsche
Straßenbild in der nordukrainischen Kleinstadt Iwankiw am Rande der Sperrzone rund um das Kernkraftwerk Tschernobyl, aufgenommen am 13.04.2016. Iwankiw liegt etwa 50 Kilometer vom Unglücksreaktor in Tschernobyl entfernt. Archivfoto: Andreas Stein/dpa Foto: red

Vor 30 Jahren ereignete sich der Super-GAU im Kernkraftwerk Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion. Die Journalistin Merle Hilbk wollte wissen, wie die betroffenen Menschen in Belarus und der Ukraine heute mit der Katastrophe und ihren Folgen leben und veröffentlichte bereits vor fünf Jahren ein bemerkenswertes Buch. Ihr gleichsam locker und informativ geschriebenes Sachbuch „Tschernobyl Baby“ ist nicht nur eine atemraubende Analyse über das Leben mit den Spätfolgen eines Atomkraftunglücks. Es ist auch die Geschichte von fehlender Informationspolitik und einer schwierigen Freundschaft zwischen zwei Kulturen und Staatssystemen.

 
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In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 explodiert im Atomkraftwerk Tschernobyl nahe der kleinen Stadt Pripjat der vierte von sechs Reaktorblöcken. Bis heute ist nicht ganz klar, wie es zu dem Größten Anzunehmenden Unfall (GAU) kommen konnte. Klar ist, dass ein Experiment schief gegangen ist: Das Sicherheitssystem des Reaktorblocks 4 sollte getestet werden. Das Ergebnis war eine Kernschmelze und das bis dato größte Reaktorunglück der Welt. Erst drei Tage später wird die Bevölkerung informiert und noch ein paar Tage später evakuiert.

Strahlung ist das beste Argument gegen Atomkraft

Obwohl es bis heute eine Sperrzone von bis zu 30 Kilometern um das AKW gibt, der Reaktor unter einem mehrere Meter dicken Sarkophag aus Beton ruht und das Kraftwerk 2000 endgültig stillgelegt wurde, leiden die Menschen im unmittelbaren Umfeld immer noch unter den Folgen der Katastrophe. Selbst in Süddeutschland stellt man immer noch erhöhte Radioaktivität bei Wildschweinen und Pilzen fest. Nach dem Unglück im japanischen Fukushima, bei dem weitaus mehr Radioaktivität freigesetzt wurde und immer noch wird, liefert die Langzeitbetrachtung des Bezirks Gomel, in dem das AKW Tschernobyl steht, weitere Argumente gegen die Nutzung von Atomkraft.

Irgendwie weiß man das alles schon, und gerade nach Fukushima ist man fassungslos, wie sehr die Menschheit doch eine Technik unterschätzen kann, die zumindest in Deutschland doch auch „nur“ Brückentechnik sein sollte. Aber Merle Hilbk liefert mit ihrem Buch am laufenden Band weitere unangenehme Fakten und Beobachtungen, die einen spätestens nach dieser Lektüre zum absoluten Atomkraftgegner werden lassen.

Fehlende Informationspolitik und Staatswillkür

Es ist diese Paarung aus unberechenbarer Technik und fehlender Informationspolitik der ehemaligen Sowjet-Mitgliedstaaten Belarus und Ukraine, die einen auf fast jeder Seite erschauern lässt. Die eine völlig andere Gesellschaft erzeugt und einen anderen Umgang mit einer solche gewaltigen Problematik wie dem atomaren Unglück. Ein bisschen kennt man das noch von der DDR, aber wie die Menschen in diesen beiden Ländern, vor allem in Weißrussland unter Präsident Lukaschenko, dem letzten Diktator Europas, mit Tschernobyl leben müssen, dafür gibt es nur ein Wort: Staatswillkür.

Hilbk reist in das Sperrgebiet, sieht sich den verunglückten Reaktor an, trifft auf Menschen, die damals evakuiert wurden und nun zurückgekehrt sind in ihr Dorf. Sie spricht mit Männern, die damals als sogenannte Liquidatoren für die Direkthilfe am Reaktor ihr Leben riskiert haben und mit Frauen, die ohne ihre Männer umgesiedelt wurden. Sie fährt nach Trojeschina, jenen Stadtteil der ukrainischen Hauptstadt Kiew, der für die Aussiedler aus Pripjat eine Dreiviertelstunde vom Stadtzentrum entfernt geschaffen wurde und heute einer der elendsten der Region ist.

Morbide Schönheit der Sperrzone

Und sie spricht auch von all den Dingen und Eindrücken dazwischen: von der Schönheit der zeitlosen Landschaft in der Sperrzone, die wie eine „Kulisse aus einer anderen Welt“ wirke, „ein bisschen 'Blade Runner', ein bisschen 'I am Legend', eine apokalyptische Filmwelt irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang. Von jungen Ukrainern, die Geld damit verdienen, dass sie Video- und Computerspiele mit Szenen und Geschichten aus der Sperrzone programmieren, während ihre gleichaltrigen Nachbarn in Belarus Besuch kriegen vom Geheimdienst, weil sie ein Wort zu viel mit einem Ausländer über Tschernobyl gesprochen haben.

Vom Zonen-Tourismus, der die Industrieruine mit ein bisschen Abenteuer-Romantik als All-inklusive-Urlaubstour verkaufen lässt. Von selbsternannten Schamanen, die jenseits aller Wissenschaftlichkeit die Existenz von Radioaktivität kraft ihrer Gedanken zu besiegen glauben und damit lieber die Natur herausfordern als den Staat, der schon längst aufgegeben hat, für die Opfer der Katastrophe zu sorgen.

Anderer Umgang mit den Folgen der Katastrophe vor Ort

Zwei weitere dramaturgische Griffe machen Hilbks Buch so wahnsinnig wertvoll: Zum einen schreibt nicht nur sie selbst, sondern sie lässt auch ihre weissrussische Begleiterin Mascha, die als sogenanntes „Tschernobyl Baby“ 1986 in der Nähe des Kraftwerks geboren wurde, zu Wort kommen. Durch Maschas Blick wird deutlich, warum der Umgang der beiden Frauen miteinander, warum der gesamte östliche Umgang mit dem Thema Tschernobyl so anders und teilweise schwierig ist: weil diese zwei gegensätzlichen Staatssysteme solch starke kulturelle Unterschiede und Gesellschaften produzieren – bis hin zu dem Punkt, dass sie die Wahrheitssuche einer Journalistin ernsthaft behindern.

Vergleich mit Deutschland

Zum anderen vergleicht Hilbk,1969 geboren und so als Jugendliche durch die Grünen und die entstehende Anti-Atomkraft-Bewegung früh politisch geprägt, die Geschehnisse in der ehemaligen Sowjetunion stets mit denen in Deutschland, zeichnet die Geschichte von Initiativen wie „Kinder von Tschernobyl“ nach, die in den 90ern begann, Kinder aus dem Reaktorgebiet zur Erholung nach Deutschland zu schicken, spricht mit frühen Aktivisten, Politikern und Wissenschaftlern, beleuchtet auch den Umgang der ehemaligen DDR mit Atomkraft und zieht Parallelen zu politischem Handeln hier wie dort, ohne den oberlehrerhaften Zeigefinger zu erheben.

Immer ist noch genug Raum, dass man sich als Leser seine eigenen Schlüsse ziehen darf. Dieser lässt am Ende freilich wenig Interpretationsspielraum. Noch immer arbeiten rund 3000 Menschen im abgeschalteten AKW Tschernobyl. Sie sorgen dafür, dass das Werk nach und nach abgebaut wird. Wohin die verstrahlten Teile und Brennelemente kommen, erfährt man nicht.

Bittere Erkenntnis: Es gibt keine Auseinandersetzung vor Ort

Bitter ist die Erkenntnis des Buches: Noch immer setzen sich die meisten unmittelbar betroffenen Menschen nicht mit dem Unglück und dessen Spätfolgen auseinander. Hilbk macht hier indirekt drei Gruppen aus: Diejenigen, die keine andere Chance haben, weil sie entweder sehr arm sind oder als Illegale aus noch ärmeren Ländern wie Turkmenistan oder Kasachstan kommen. Sie ziehen in die Sperrzone, nehmen sich eins der leer stehenden Häuser und bauen weiter Gemüse an, gehen im Wald Pilze suchen.

Sie sehen, spüren, schmecken die Radioaktivität nicht, also kümmert sie diese auch nicht, oder sie denken, nach all den Jahren wird's doch schon wieder gut sein. Die zweite Gruppe sind diejenigen, die von der bewusst fehlgeleiteten beziehungsweise fehlenden Informationspolitik der Regierung schon mundtot gemacht oder im schlimmsten Fall durch KGB und Polizei zersetzt wurden, weil sie zu viel hinterfragt oder sich durch Engagement für das Weiterlaufen der Invalidenrenten etc. als zu aktiv gezeigt haben. Feinde des Sozialismus, denen es irgendwann nur noch ums nackte Überleben gehen muss und nicht um eine bessere Gesellschaft gehen kann.

"Man kann sich nicht aussuchen, wo einen das Leben hinstellt."

Die dritte und weitaus größte Gruppe sind diejenigen, die zwar um die Gefahren wissen, diese aber einfach vergessen wollen. Denen Heimat wichtiger ist als ihre Gesundheit, die sich zwar nicht von der Regierung fremdbestimmen lassen, ihr Land aber auch nicht verlassen wollen. Auch sie sind in vielen Fällen in ihre Dörfer in der Sperrzone zurückgekehrt. „Was soll man machen?“ sagt einer, mit dem Hilbk spricht. "Man kann sich nicht aussuchen, wo einen das Leben hinstellt." Und dieser Satz jagt dem westeuropäischen Leser den größten Schauer über den Rücken.

Das Buch:

Hilbk, Merle: Tschernobyl Baby. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2011. 280 S., 17,95 Euro.