Aktuell spielt die deutsche Elf ohne richtiges Gerüst
Offenkundig befindet sich Flick in der Falle seines Vorgängers Joachim Löw, dem am Ende das Gespür für Stimmungen, Personal und Taktik verloren ging. Der 58-Jährige flüchtete sich am Freitagabend in Warschau wieder in Phrasen und Floskeln: „Wir haben ausreichend Zeit, um die Mannschaft vorzubereiten. Ich bin sicher, dass sie eine sehr, sehr gute EM spielen kann.“
Der Ist-Zustand umfasst allerdings elementare Mängel in allen Mannschaftsteilen; und auf die Rückkehr eines Thomas Müller und Manuel Neuer zu hoffen, die weder bei der letzten WM noch EM wirklich eine Hilfe waren, könnte sich zum fatalen Irrtum ausweiten. Der eine ist nächsten Sommer 34, der andere 38. Aktuell spielt die deutsche Elf ohne richtiges Gerüst. Direktspiel kommt kaum zur Aufführung, Automatismen sind nicht hinterlegt und Standardsituationen beinahe wieder ein Ärgernis.
Rüdiger hadert: „Die haben eine Chance – und treffen.“
Würde bald ein Fußball-Unwort des Jahres gewählt, hätte der von Flick stets bemühte „Prozess“ beste Chancen auf die Ernennung. Gegen limitierte Polen passte wiederholt die Balance nicht. „Wir waren auf Fehlervermeidung und Kontrolle aus. Wir wollten nicht zu viel riskieren“, gab Kapitän Joshua Kimmich zu, dafür habe man speziell in der ersten Hälfte „zu behäbig, zu langsam“ gespielt. Am Ende häufte der Verlierer zwar 76 Prozent Ballbesitz und 26:2 Torschüsse an, aber dem Sieger genügte ein Kopfballtor von Jakub Kiwior (31. Minute) – und eine Weltklasseleistung von Tormann Wojciech Szczesny.
„Die haben eine Chance – und treffen. Wir brauchen halt leider etwas mehr“, haderte Verteidiger Antonio Rüdiger. Für Rückkehrer Robin Gosens ist die Lage sogar „todernst“, wie er etwas zu martialisch formulierte – man müsse endlich wieder „Resultate“ generieren.
Außer Mitleid ruft die Nationalelf kaum noch Gefühlsregungen hervor
In dieser Saison sind nur Siege gegen Oman (1:0), Costa Rica (4:2) und Peru (2:0) gelungen. Die Ergebnis- und Schaffenskrise passt nicht zum Anspruch dieser Fußballnation, deren Verzwergung Flick nicht richtig wahrhaben wollte, als er aus Warschau ausrief: „Es gibt Phasen, die dann so verlaufen. Aber wir werden da rauskommen. Ich bin absolut von unserem Weg überzeugt.“
Den Abzweig auf die Erfolgsspur kann nur bei der nächsten Zusammenkunft mit den Partien gegen Japan (9. September) und Frankreich (12. September) niemand garantieren. Zuvor an diesem Dienstag gegen Kolumbien sei es „kein Freundschaftsspiel“, verdeutlichte Völler. Flick spürte selbst den Druck: „Wir müssen fighten und gewinnen, das ist unser Auftrag.“ Der Verband trommelt seit Tagen auf seinen Kanälen für den Ticketverkauf, aber außer Mitleid ruft die Nationalelf kaum noch Gefühlsregungen hervor, weil sie schon lange nur noch graues Mittelmaß darstellt. Dabei ist die Welt doch selbst in Warschau heutzutage viel bunter.