Minderjährige fliehen aus Afrika und Afghanistan Immenreuth: Junge Flüchtlinge im SOS-Kinderdorf

Von Udo Fürst
 Foto: red

Im SOS-Kinderdorf Oberpfalz sind sechs Jugendliche aus Afrika und Afghanistan gestrandet. Sie werden dort liebevoll betreut. Ihre Flucht nach Europa haben die Heranwachsenden teuer bezahlt. Bis ans Ziel ist es für die Jungs trotzdem noch ein weiter Weg.

 
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Hermann Gmeiner, der Gründer der Kinderdörfer, wäre begeistert von dem, was in seinem SOS-Kinderdorf in Immenreuth geschieht. Vor knapp sechs Monaten haben dort sechs junge Menschen aus vier Nationen eine neue Heimat gefunden. Gmeiner, der 1986 verstorbene Gründervater dieser „Friedensdörfer“, wie sie der Österreicher selbst bezeichnete – mittlerweile gibt es 533 in 134 Ländern –, lebte für seine Vision, Kindern in Not ein Zuhause, eine Familie zu geben. Am Samstag feiern die deutschen SOS-Kinderdörfer, darunter auch das „Haus Oberpfalz“ in Immenreuth, 60. Geburtstag. Die Organisation wird von Spendern unterstützt.

Ohne Eltern auf den Weg gemacht

Jonathan, Briar, Mohamad, Libaan, Erfan und Abdiwhaab kommen aus Eritrea, Afghanistan, Syrien und Somalia. Sie sind „unbegleitete Flüchtlinge“, Minderjährige zwischen 14 und 17 Jahren, die alleine auf abenteuerlichen Wegen dem Terror in ihren Heimatländern entkamen und nach Deutschland geflohen sind. „Dass wir diese Jugendlichen aufgenommen haben, knüpft exakt an Hermann Gmeiners Idee der Friedensdörfer an“, erklärt Alfred Schuster, Leiter des SOS-Kinderdorfs Immenreuth. Und es sollen noch mehr werden. Im Herbst will man weitere zehn junge Flüchtlinge unterbringen. Dafür muss man ein Haus herrichten und vier zusätzliche Erzieher einstellen.

In Rosenheim gelandet

Die sechs Jungen kamen vor etwa sechs Monaten von der „Clearingstelle“ Rosenheim. So heißt das Erstaufnahmelager für minderjährige Flüchtlinge. Dort soll geklärt werden, welchen Hilfebedarf die jungen Leute haben, bevor sie in eine geeignete Einrichtung der Jugendhilfe kommen. In Rosenheim laufen auf der Autobahn und auf der Schiene die Hauptrouten der Schleuser zusammen: vom Balkan über Salzburg kommend und von Italien über den Brenner. So kamen auch die jetzt in Immenreuth lebenden Jugendlichen ins Land. Früher kamen schon andere dort an.

Alles prima

„Alles prima Jungs“, schwärmt Alfred Schuster von seinen neuen Schützlingen. Sehr fleißig seien sie, nett und unglaublich lernwillig. Briar zum Beispiel spricht bereits nach wenigen Wochen sehr gut Deutsch, fungiert als Übersetzer für seine Freunde, wenn denen mal nicht gleich das passende Wort einfällt. Der 16 Jahre alte Syrer kommt aus Derbasia, seine Eltern, die 15 Jahre alte Schwester und der zwölf Jahre alte Bruder blieben in der zerstörten Heimat. Etwa 8000 Euro hat seine einmonatige Flucht, teils mit Autos, teils zu Fuß, über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich gekostet, erzählt Briar. Zwei Drittel hätten seine Eltern bezahlt, den Rest ein Onkel. „Ich wollte weg, das war mein eigener Entschluss“, sagt der Junge. Dafür, dass sie ihm das ermöglicht haben, sei er seinen Eltern unendlich dankbar.

Familien bezahlten die Flucht

Nicht ganz so reibungslos verlief die Flucht von Abdiwahaab. Der 16 Jahre alte Somalier musste 3000 Dollar an Schleuser bezahlen und brauchte trotzdem ein Jahr und vier Monate, bis er sein Traumziel erreicht hatte. Sieben Monate davon verbrachte er in einem libyschen Gefängnis. Warum sie ihn da reingesteckt hatten, weiß er nicht. Danach wurde er gezwungen, mehrere Wochen auf einem Feld zu arbeiten, ehe ihm die Flucht gelang. Warum ausgerechnet Deutschland?

Ins Land des Fußballweltmeisters

„Hier ist die Heimat des Weltmeisters. In Deutschland wird der beste Fußball gespielt“, sagt Abdiwahaab und schmunzelt. Dann, ernster: „Hier gibt es Sicherheit und Frieden.“ Das waren auch die ausschlaggebenden Gründe für Briar, Deutschland zu wählen. Er habe das Land schon ein bisschen vom Fernsehen und aus dem Internet gekannt. Sein Traum ist, hierbleiben und nach der Schule Industriekaufmann lernen zu dürfen.Doch in Immenreuth sind nicht alle Flüchtlinge willkommen.

„Ich dachte, du wolltest Dolmetscher werden?“, fragt ihn Alfred Schuster. „Dafür ist Deutsch doch etwas zu schwer“, antwortet Briar. Abdiwahaab möchte Mechaniker werden – und auch immer in Deutschland bleiben. „Hier ist es so schön“, sagt der junge Somalier.

Vormittags besuchen die sechs Jungen eine von der Kolping-Jugendhilfe getragene Klasse in der Berufsschule Wiesau. Dort lernen sie Deutsch und Mathe. Nachmittag geht das Lernen weiter. „Sie kennen die normale Tagesstruktur nicht, müssen ganz einfache Dinge lernen wie zu einer bestimmten Zeit Abend zu essen oder ins Bett zu gehen“, erklärt Schuster. Seit einigen Tagen haben die sechs jungen Flüchtlinge eine zusätzliche Aufgabe. Sie helfen mit, das Jubiläumsfest 60 Jahre SOS-Kinderdorf am Samstag vorzubereiten. Erst haben sie Wege gekehrt und Gras zusammengerecht, am Mittwoch durften sie das große Festzelt neben dem Kinderdorf mit aufbauen. „Die sind mit Feuereifer dabei, wollen immer etwas tun“, weiß der Dorfleiter.

90 Kinder in 14 Familien

62 Mitarbeiter sind derzeit im Kinderdorf beschäftigt, 90 Kinder und acht Pflegemütter leben in den 14 Familien- und drei Gemeinschaftshäusern. Vor 48 Jahren, 1967, wurde das SOS-Kinderdorf Oberpfalz eingeweiht. Seither fanden etwa 600 Kinder in Immenreuth eine neue Heimat und eine neue Familie. „Im SOS-Kinderdorf finden elternlose Kinder und solche aus schwierigen Familienverhältnissen ein neues Zuhause. Sie wachsen dort in der Geborgenheit einer SOS-Familie auf: liebevoll umsorgt von ihrer SOS-Kinderdorf-Mutter, zusammen mit Geschwistern“, beschreibt die Organisation die Idee ihres österreichischen Gründers. Jeweils fünf bis zehn Mädchen und Jungen leben gemeinsam mit ihrer SOS-Mutter in einem Familienhaus. Zehn bis 15 Kinderdorf-Familien bilden eine Dorfgemeinschaft. Da kommt auch gern Besuch.

Das SOS-Kinderdorf Immenreuth wurde durch die sechs jungen Menschen aus Afrika und Afghanistan bereichert, ist Alfred Schuster überzeugt. Und er ist sicher, dass die Gemeinschaft mit den zehn weiteren Jugendlichen ab Herbst noch wertvoller wird. Hermann Gmeiner würde das gefallen.