Den Nazi-Mythos entlarven

Von Uli Bachmeier
 Foto: red

Es gibt Historiker, die ein Leben lang herausragende Forschungsarbeit leisten, ohne dass die breite Öffentlichkeit davon Kenntnis nimmt. Die Historiker aber, die am Freitag im Institut für Zeitgeschichte in München das Ergebnis ihrer dreijährigen Arbeit vorstellten, müssen sich mit einem öffentlichen Interesse auseinandersetzen, das seinesgleichen sucht: Gut ein Dutzend Fernsehteams sowie rund 80 Journalisten aus Bayern, Deutschland und Europa waren gekommen, um bei der Vorstellung des Buches „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition“ dabei zu sein.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Damit nicht genug: Die Historiker, die das Projekt der ersten kommentierten wissenschaftlichen Gesamtausgabe der in Deutschland verbotenen Hetz- und Propagandaschrift auch dann noch vorantrieben, als die bayerische Staatsregierung ihre Unterstützung einstellte, müssen sich für ihre Arbeit auch noch rechtfertigen.

Es gibt allerdings nur eine Art von Kritik, die Andreas Wirsching, der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, gelten lässt: Die Kritik aus der Perspektive der Opfer des Nationalsozialismus. „Dies ist in vollem Umfang zu respektieren“, sagte Wirsching. Alle anderen Einwände wies er zurück. Er betonte: Angesichts der urheberrechtlichen und politischen Rahmenbedingungen wäre es allerdings auch politisch-moralisch nicht zu vertreten und mit großem Risiko behaftet, in Sachen ,Mein Kampf‘ untätig zu bleiben. Die kritische Aufarbeitung der Geschichte von Rassismus und Gewalt sowie ihrer Wurzeln sei immer auch ein wissenschaftlicher und sehr spezieller Dienst an der Würde der Opfer.

Dass die knapp 2000 Seiten starke, mit 3500 Anmerkungen und Kommentaren versehene Neuausgabe ausgerechnet jetzt veröffentlicht wird, hat einen einfachen Grund. 70 Jahre nach Hitlers Tod ist die urheberrechtliche Sperrfrist abgelaufen. Damit wären Nachdruck und Verbreitung des Buches zu kommerziellen oder ideologischen Zwecken kaum mehr zu verhindern gewesen – auch wenn dies in Deutschland nach wie vor unter den Straftatbestand der Volksverhetzung fällt.

Deshalb beschlossen Bayerischer Landtag und Staatsregierung 2012, eine wissenschaftliche Edition zu unterstützen. Nach Protesten von Holocaust-Opfern aber kündigte die Regierung die Unterstützung wieder auf. Die Historiker am Institut für Zeitgeschichte jedoch führten das Projekt zu Ende. Sie geben das Buch im Selbstverlag und zum Selbstkostenpreis (59 Euro) heraus.

Die Historiker sind der Überzeugung, wie Wirsching betonte, dass es schlicht unverantwortlich wäre, dieses Konvolut der Unmenschlichkeit gemeinfrei und kommentarlos vagabundieren zu lassen, ohne ihm eine kritische Referenzausgabe gegenüberzustellen. Hitlers gezielte Falschinformationen, Halbwahrheiten und Lügen sowie seine Selbststilisierung sollen durch die Kommentierung entlarvt werden. „Hitlers Schrift bedarf der Wertung, der Richtigstellung, der Kritik. Sie bedarf der Gegenrede“, sagt Christian Hartmann, der Leiter des Projekts.

Der britsche Historiker Ian Kershaw, der durch seine Schriften zum Nationalsozialismus und vor allem durch seine zweiteilige Biografie über Hitler bekanntwurde, sprang seinen Münchner Kollegen zur Seite. „Die Lektüre wird sicherlich keinen unvoreingenommenen Menschen zum Nazi konvertieren“, sagte Kershaw und wies darauf hin, dass Hitlers Text übers Internet oder Antiquariate verfügbar war. Deshalb sei es höchste Zeit gewesen, dass eine streng wissenschaftliche Edition von „Mein Kampf“ der Forschung, der Pädagogik und der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Mit der Veröffentlichung werde dem Buch die Faszination des Unzugänglichen genommen.

Er hoffe, dass die kritische Edition dazu beiträgt, die menschenverachtende Ideologie Hitlers zu entlarven und dem Antisemitismus entgegenzuwirken, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, zu der Veröffentlichung. Gegen eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe sei nichts einzuwenden. Sie sollte vor allem in Forschung und Lehre eingesetzt werden. Gleichzeitig wendet sich Schuster gegen eine generelle Freigabe des Buchs. „Mein Kampf“ sei schließlich eine volksverhetzende, niederträchtige Propagandaschrift, die vulgären Antisemitismus verbreite und sich damit gegen die demokratische Grundordnung wende.

Mitarbeit: micz

 

Lesen Sie dazu auch:

"Hitler pflegte wie Wagner den Geniekult"