Cameron verteidigt darin seine Entscheidung, das Volk über die britische EU-Mitgliedschaft abstimmen zu lassen. "Die Frage musste geklärt werden, und ich dachte, das Referendum kommt (sowieso)." Auch mehr als drei Jahre nach seinem Rücktritt vergehe kein Tag, an dem er nicht über die verlorene Volksabstimmung nachdenke. "Ich mache mir große Sorgen darüber, was als nächstes passieren wird", so Cameron.
Die proeuropäischen Liberaldemokraten, die seit Samstag mit ihrer neuen Chefin Jo Swinson im südenglischen Bournemouth tagen, wollen den Brexit komplett stoppen und setzen sich dafür ein, den Antrag zum Austritt aus der EU zurückzuziehen. Die Liberaldemokraten bekommen im Zuge des Brexit-Streits Zulauf aus anderen Parteien und haben zuletzt auch bei der Wahl zum Europaparlament im Mai gut abgeschnitten.
Johnson hatte sich am Freitag bei einer Rede in Nordengland "vorsichtig optimistisch" gezeigt, was die Chancen auf ein Abkommen mit der EU in letzter Minute betrifft. Er will sich am kommenden Montag mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu einem Arbeitsmittagessen in Luxemburg treffen.
Am Dienstag beginnt dann die Anhörung vor dem obersten britischen Gericht (Supreme Court) zu der Frage, ob die von Johnson auferlegte fünfwöchige Zwangspause des Parlaments rechtmäßig ist. Ein schottisches Gericht hatte zuvor die Schließung bis zum 14. Oktober für unrechtmäßig erklärt und Johnson vorgeworfen, die Abgeordneten kaltstellen zu wollen. Johnson will Großbritannien an Halloween (31. Oktober) aus der Staatengemeinschaft führen - "komme, was wolle".
Hartnäckig halten sich Berichte über eine mögliche Annäherung zwischen London und Brüssel im Brexit-Streit. Die Londoner "Times" hatte am Freitag unter Berufung auf Parteikreise berichtet, die nordirisch-protestantische DUP habe ihren Widerstand gegen eine mögliche Lösung im Brexit-Streit teilweise aufgegeben. Der Bericht wurde umgehend von der DUP dementiert.
Knackpunkt ist die Frage, wie Grenzkontrollen zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-Mitglied Irland verhindert werden können. Falls dies nicht gelingt, wird ein Wiederaufflammen des Konflikts zwischen mehrheitlich katholischen Befürwortern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands und mehrheitlich protestantischen Loyalisten befürchtet. Johnson lehnt den im bisherigen Austrittsabkommen vereinbarten Backstop - also die Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland - strikt ab.
Spekuliert wird nun über einen Ausweg aus dem Brexit-Streit, demzufolge nur das verhältnismäßig kleine Nordirland eng an EU-Regeln gebunden bliebe. Dadurch wären jedoch Kontrollen für Waren notwendig, die aus Großbritannien nach Nordirland kommen. Das lehnte die DUP bislang strikt ab, von deren Stimmen die Minderheitsregierung der im Juli zurückgetretenen Premierministerin Theresa May im Parlament abhing. DUP-Brexit-Experte Sammy Wilson dementierte denn auch den "Times"-Bericht sofort in einem BBC-Interview: Es habe bloß einen Fortschritt in Form einer veränderten Einstellung gegeben. Der irische Sender RTÉ sprach am Samstag von einem "Brexit-Glücksspiel".