Polizei befreit ein Dorf-Phantom

Von Manfred Scherer
 Foto: red

Er war ein Phantom. Man wusste, dass er existiert, denn man hörte sein Stöhnen. Gesehen wurde er in den vergangenen 30 Jahren nur wenige Male. Die Bayreuther Kripo hat in einem kleinen Ort im westlichen Landkreis einen 43-jährigen Mann aus jahrzehntelanger Isolation befreit.

 
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Ein Fall Natascha Kampusch, ein Fall Fritzl im Landkreis? Nein, sagt die Polizei. Der Mann sei weder angekettet noch eingesperrt gewesen.

Polizeisprecher Jürgen Stadter bestätigte auf Anfrage Kurier-Recherchen zu dem Fall und erklärte: „Nach unseren momentanen Erkenntnissen gehen wird von einer persönlichen Tragödie aus, die weit über 20 Jahre angedauert hat.“

Er klammerte sich laut Augenzeugen an Büschen im Vorgarten fest

Mehrere Polizeibeamte und ein Notarzt waren am 21. September in dem Ort im Einsatz. Der 43-Jährige wurde aus einem Haus mitten im Dorf herausgeführt. Er wollte nicht mitkommen, klammerte sich laut Augenzeugen an Büschen im Vorgarten fest.

Wie richtig und wichtig das war, bestätigt Polizeisprecher Stadter: „Die Kollegen haben den Fortgang eines Dramas beendet.“ Der befreite 43-Jährige sei zwar gut ernährt, aber stark verwahrlost gewesen. Und: „Angekettet oder eingesperrt war er nicht.“ Dennoch werde zurzeit geprüft, ob die Eltern des Mannes sich strafbar gemacht haben könnten - nicht so sehr wegen Freiheitsberaubung, sondern wegen Körperverletzung durch Unterlassung. Der 43-Jährige wurde nach der Polizeiaktion im Bezirkskrankenhaus untergebracht, ob er psychisch krank oder nur einfach anders als alle anderen ist, steht bislang nicht fest.

Als "nicht schulfähig" eingestuft

Bekannt ist: Der im Jahr 1973 geborene Mann kam normal in die Schule und wurde bald als „nicht schulfähig“ eingestuft. Polizeisprecher Stadter: „Als die Kripo den Hinweise bekam, wurde erst einmal auf dem Büroweg geprüft. Kann das sein? Gibt es eine solche Person?“ Es stellte sich heraus, dass bei der örtlichen Meldebehörde eine Geburtsurkunde vorlag, aber sonst nichts. Der 43-Jährige bekam nie einen Personalausweis, obwohl er ihn mit 16 hätte bekommen müssen. Stadter: „Behördlich gesehen ist er ein weißes Blatt gewesen.“

Warum wandten sich die Dorfbewohner nicht mal an die Behörden? Aus Angst, sagen viele. Eine Anwohnerin: „Wir haben immer wieder mal überlegt, ob man was tun soll oder was tun kann.“ Doch die Eltern des Phantoms hätten ihren Sohn abgeschirmt und auf Annäherungen aggressiv reagiert.

"Dann bist du im Dorf der Verräter"

Die Anwohnerin sagt, dass sie und ihr Mann die Befürchtung hatten, „dass sich die Mutter an uns rächt, wenn wir die Polizei rufen.“ Eine andere Nachbarin berichtet, sie sei besonders terrorisiert worden - die Mutter des „Eingesperrten“ habe sie persönlich verantwortlich gemacht, dass vor etwa 30 Jahren einmal Polizei und Jugendamt im Dorf angerückt seien: „Es ging damals darum, dass der Junge nicht mehr zur Schule ging. Angeblich, weil er gemobbt wurde.“ Der Sohn dieser Anwohnerin sagt: „ Irgendwie hat man schon ein schlechtes Gewissen, dass man nichts unternommen hat. Jeder hat von ihm gewusst und jeder hat es verdrängt. Doch was ist, wenn du die Polizei holst, und an deinen Vermutungen ist nichts dran? Dann bist du im Dorf der Verräter.“

Eine Polizeiaktion in dem Ort Anfang der 80er Jahre? Polizeisprecher Stadter sagt dazu: „Das lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Nach 35 Jahren gibt es da keine Unterlagen mehr.“ Ebenso nicht nachprüfbar dürfte die Aussage eines Dorfbewohners sein, der bei einem Polizeieinsatz wegen einer Grenzstreitigkeit Streifenpolizisten darauf hingewiesen haben will, dass in dem Haus mitten im Ort „etwas mit dem Sohn nicht stimmt“. Laut Polizeisprecher Stadter werden Einsatzdaten mit der Zeit gelöscht: „Zurzeit haben wir keine Anhaltspunkte, dass es in diesem Fall ein Behördenversagen gab.“

 

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