TTIP: Ein Markt für zwei Systeme

US and EU Puzzle Pieces - American and European Flag Jigsaw 3D Illustration. Grafik: Fotolia - Fredex / Montage: Frankenberger Foto: red

Die Kurier-Serie „TTIP einfach“ erklärt, wo sich das Freihandelsabkommen zwischen Europa und den USA auf unser Leben auswirken könnte. Im ersten Teil gibt der Ökonomie-Professor Bodo Herzog einen allgemeinen Überblick über die Chancen und Risiken von TTIP. Die deutsche Landwirtschaft muss aufpassen, die Industrie ist gut gerüstet und der Mittelstand dürfte profitieren. Das sind seine Prognosen. Gemeinden rät er, im Zweifel die Finger wegzulassen von Privatisierungen.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Herr Professor Herzog, erfindet TTIP das Rad neu oder ist es ein klassisches Freihandelsabkommen, wie es sie schon zigmal auf der Welt gibt?

Herzog: In großen Teilen ist es ein klassisches Freihandelsabkommen. An einigen Stellen sagt die EU-Kommission aber, sie möchte ein ehrgeiziges Abkommen mit den USA abschließen und neue Standards setzen. Das ruft dann eben auch die Emotionen und die Proteste hervor.

Es wird schon in gewaltigem Umfang Handel betrieben zwischen Deutschland und den USA. Wozu dann noch so ein Abkommen?

Herzog: Zunächst muss man festhalten, dass der größte Teil des Handels nicht zwischen Deutschland, USA und China stattfindet, sondern zwischen Deutschland und den anderen europäischen Ländern. Insofern sollte man diese Debatte um TTIP nicht überhöhen. Es gibt zwei Gründe, warum dieses Abkommen geplant wird. Zum einen gibt es nach wie vor Zölle, die zwischen drei und 15 Prozent liegen. Wenn man noch die unterschiedlichen Standards dazu rechnet, dann kommen noch einmal Kosten von bis zu 25 Prozent dazu. Zum anderen will man strategisch einen großen Markt zwischen Europa und den USA schaffen. Und dieses Handelsabkommen soll einen neuen Standard für künftige Handelsabkommen definieren. Die EU-Kommission sagt explizit in dem nun veröffentlichten, geheimen Vertragstext: Sie plädiert für ein ehrgeiziges Abkommen, das den Goldstandard setzt.

Welche Chancen bietet TTIP?

Herzog: Da muss man unterscheiden zwischen Produzenten- und Verbraucherseite. Auf der Produzentenseite bietet ein Freihandelsabkommen einen größeren Absatzmarkt. Das ist insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen von Vorteil. Wenn man gleiche Standards hat, so kann man die Maschinen, Geräte oder Verfahren einfacher exportieren. Für die Konsumenten gibt es den Vorteil einer größeren Produktvielfalt und -auswahl und aufgrund des zunehmenden Wettbewerbs sinkende Preise.

Was sind die Gefahren von TTIP?

Herzog: Die größte Gefahr sehe ich weniger im ökonomischen Bereich, sondern in den unterschiedlichen Rechtssystemen. Das beste Beispiel, um den Unterschied zu verdeutlichen, ist der Verbraucherschutz. Wir in Europa haben das Vorsorgeprinzip, die USA haben das Nachsorge- oder Risikoprinzip. In Europa muss also erst belegt werden, dass ein Produkt sicher ist. Dann kann es auf den Markt. Die USA sagen: Ihr könnt ein Produkt auf den Markt bringen, solange nicht belegt ist, dass es Risiken birgt. Wie man das zusammen bringen will, ist mir als Ökonom unklar.

Warum muss man diese beiden Prinzipien unbedingt zusammenbringen?

Herzog: Wenn man einen gemeinsamen Markt hat, muss man sich auf bestimmte Regeln einigen. Hat man zwei unterschiedliche Rechtstraditionen, stellt sich die Frage: Was passiert, wenn eine US-amerikanische Firma ein Produkt gemäß dem Nachsorgeprinzip in Europa auf den Markt bringt, und im Nachhinein stellt sich heraus, dass das Produkt mit Risiken behaftet ist. In Amerika gibt es dann sehr hohe Schadensersatzansprüche. Im deutschen Recht gibt es das nicht. Das wäre die Krux, dass der europäische Verbraucher nicht die gleichen Möglichkeiten hat, Schadensersatz zu fordern.

Chlorhühnchen, Hormonfleisch – das sind Kampfbegriffe der Gegner. Aber genau das sind ja auch solche Produkte, die man hier als potenziell gefährlich betrachtet. Drängen solche Massenprodukte bei uns die kleinen Landwirte vom Markt?

Herzog: Die Gefahr besteht. Interessanterweise ist es so, dass die Amerikaner sich vor Bakterien im Hühnerfleisch fürchten und es deshalb mit Chlor desinfizieren. Die Europäer sehen eben in diesem Chlor eine Gefahr. Tatsache ist, dass natürlich die Salmonellen- und Bakterienbelastung gerade beim Hühnerfleisch in Europa ein Problem ist. Wenn man die Bürger befragt, welche Standards bezüglich Lebensmittel sie bevorzugen, dann sagen die Europäer: die EU-Standards. Befragt man die US-Amerikaner, sagen sie, dass ihre Standards besser sind. Es geht letztlich um gesunde Lebensmittel. Man kann nicht alles als Ware betrachten. Manche Produkte muss man aus den Verhandlungen rausnehmen.

Die Produzenten welcher Waren könnten durch TTIP in Bedrängnis geraten?

Herzog: Insbesondere stehen die Bereiche im Wettbewerbsdruck, die die US-Seite günstiger herstellen und auf dem europäischen Markt anbieten und damit regionale und lokale Produkte aus dem Markt drängen kann. Welche Bereiche das sind, ist ganz schwer zu sagen. Wenn man sich unsere Wirtschaft anschaut, ist Deutschland als eines der wenigen Länder im internationalen Wettbewerb sehr gut aufgestellt. Auf dem industriellen Sektor habe ich da wenig Befürchtungen. Die größten Risiken sehe ich in der Tat in der Landwirtschaft, weil wir eine sehr klein strukturierte Landwirtschaft haben. In den USA sind es sehr große Agrarbetriebe. In klassischen deutschen Industrien wie dem Automobil- oder Chemiesektor ist die Gefahr weniger groß.

Wer profitiert bei uns, wenn sich der US-Markt für Europa öffnet?

Herzog: Am meisten die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Wenn Zölle wegfallen und bürokratischer Aufwand reduziert wird, ist das gut für kleine und mittelgroße Unternehmen, die keine Rechtsabteilung haben oder keine Produktionsstätten im Ausland, wie die Großindustrie. Der Marktanteilzuwachs von kleinen und mittelständischen Unternehmen wird auf gut 40 Prozent geschätzt. Für große Unternehmen wird dieses Potenzial auf rund 18 Prozent geschätzt.

Können Sie Bereiche benennen, in denen deutsche Mittelständler besonders gut und kostengünstig produzieren und Chancen haben auf dem amerikanischen Markt?

Herzog: Das sind die typischen Nischenprodukte in der Werkzeug- und der Medizinindustrie. Da gibt es viele Unternehmen, die sehr wettbewerbsfähige Produkte herstellen und bislang aufgrund unterschiedlicher Standards verschiedene Produkte für verschiedene Märkte herstellen mussten. Ein Beispiel: Der stromführende Leiter elektrischer Geräte muss in Europa schwarz sein. In den USA muss er rot sein. Der Vorteil wäre, man könnte ein Gerät für den Gesamtmarkt herstellen.

Thema Schiedsgerichte. Was hat es damit auf sich?

Herzog: Bei den Schiedsgerichten geht es vorwiegend um den Schutz der ausländischen Investoren, zum Beispiel vor Enteignung. Das kann man sich mal historisch anschauen. Das erste Abkommen hat Deutschland mit Pakistan 1959 abgeschlossen. Da wurden solche Schiedsgerichte aufgenommen, weil Deutschland die Befürchtung hatte, dass das pakistanische Rechtssystem nicht unabhängig genug ist. Und wenn jetzt ein deutscher Unternehmer dort investiert und enteignet wird, wollte er sein Recht durchsetzen können.

Man darf aber doch annehmen, dass in den USA und in Europa die Rechtsprechung soweit unabhängig ist, dass man sich auf nationale Gerichte verlassen kann.

Herzog: Das ist sicherlich richtig. Wobei die Rechtssysteme andere Traditionen haben. Deshalb würden sich beide Seiten vielleicht vor dem jeweils unbekannten Rechtssystem fürchten. Deswegen die neutralen Schiedsgerichte. Es gibt bekanntlich viele Vorbehalte gegen die Schiedsgerichte. Wenn man sich aber die Urteile bestehender Gerichte einmal anschaut, so gehen 24 Prozent der Verfahren zugunsten der Investoren aus. 26 Prozent endeten in einem Vergleich. 50 Prozent der Urteile wurden zugunsten der Staaten gesprochen. Daran kann man sehen, dass die Schiedsgerichte keineswegs einseitig zugunsten der Investoren entscheiden. Ich würde allerdings einen internationalen Handelsgerichtshof bevorzugen.

Was hätte ein internationaler Handelsgerichtshof für Vorteile?

Herzog: Er bietet mehr Transparenz. Die Urteile der Schiedsgerichte wurden bislang nicht veröffentlicht. Die Verhandlungen waren hinter verschlossenen Türen. Ein Handelsgericht, ähnlich dem europäischen Gerichtshof, wäre transparent und offen.

Ein weiterer Komplex ist die kommunale Daseinsvorsorge. Wasserversorgung, Abfall, Gesundheit, Schule – die TTIP-Gegner befürchten, das alles könnte in private Hände fallen.

Herzog: Seit dem Handelsabkommen GATT der Welthandelsorganisation im Jahr 1995 gilt, dass Dienstleistungen in hoheitlicher Ausübung nicht Teil von Freihandelsabkommen sind. Und wenn man sich das TTIP-Verhandlungsmandat der EU-Kommission anschaut, so ist nachzulesen, dass Bereiche wie Gesundheit, Wasserversorgung und Bildung nicht enthalten sind. Diese Bereiche stehen also eigentlich gar nicht zur Disposition. Im Übrigen findet sich auch in den geheimen Papieren, die jetzt öffentlich wurden, dass diese Bereiche ausgenommen sind. Dennoch besteht eine Gefahr. Diese Bereiche unterliegen der politischen Gestaltung der Kommunen, Kreise und Länder. Wenn die Entscheidungsträger der Öffnung der Bereiche zustimmen, kann es die Gefahren geben, die die Kritiker anführen.

Die Gefahr besteht dann worin?

Herzog: Die Gefahr ist, dass man beispielsweise die Wasserversorgung privatisiert und das kurzfristig für die Kommune auch einen Kostenvorteil bringt. Aber vielleicht stellt sich langfristig heraus, dass die Instandhaltung vom privaten Investor nicht in gleichem Maße fortgeführt wird. Und damit entstehen in der Zukunft Kosten.

Kann eine Gemeinde, die das Experiment gewagt hat, die Wasserversorgung einfach wieder in eigene Hände nehmen?

Herzog: Ganz einfach vermutlich nicht. Es kommt darauf an, wie die Privatisierung vereinbart wurde. Wenn eine Kommune nach der Hälfte der Vertragslaufzeit sagt, wir wollen den Bereich wieder selbst übernehmen, dann könnte der private Investor immer sagen: Ich habe einen Vertrag, und der soll durchgesetzt werden.

Würden Sie als Ökonom den Kommunen raten: Finger weg von Privatisierungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge?

Herzog: Grundsätzlich bin ich als Ökonom für freie Märkte. Dennoch würde ich davor warnen, alles dem Markt zu überlassen. Es gibt bestimmte Bereiche, die besser beim Staat, beim Land oder der Kommune aufgehoben sind. Das hängt damit zusammen, dass der Markt möglicherweise kurzfristig eine günstige Lösung anbieten kann. Aber langfristig sind eben die Konsequenzen nicht so einfach abzuschätzen. Und das gilt für genau die Bereiche der Daseinsvorsorge, die im Verhandlungsmandat ausgenommen sind.

Das Gespräch führte Moritz Kircher.

Professor Bodo Herzog forscht und lehrt am Institut für Finanzen und Ökonomie in Reutlingen. Der Ökonom ist Professor für Volkswirtschaftslehre (Makroökonomik) und Geldtheorie. In seiner Arbeit hat er sich mit TTIP und zahlreichen, bereits bestehenden Freihandelsabkommen befasst.

Autor

Bilder