Thema: Klimawandel Eine einzelne Studie taugt nicht zu einer politischen Agenda

Leserbrief von Prof. Sigrid Liede-Schumann, Emtmannsberg
 Quelle: Unbekannt

Zum Artikel „Sind auf Migration angewiesen“,  Kurier vom 28. Februar.

 
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Vor etwa 20 Jahren gab es wissenschaftliche Studien, die den Ersatz von fossilen Treibstoffen durch „Biokraftstoffe“ aus nachwachsenden Rohstoffen als einen Weg aus der drohenden Klimakrise propagiert haben.

Das Konzept war einleuchtend, und so lange es nur durch einige wenige Menschen mit Zugang zu landwirtschaftlichen Abfallprodukten genutzt wurde, auch sinnvoll. Leider hat sich schnell herausgestellt, dass der Anbau der benötigten Pflanzen durch Rodung, Düngung, Agrarchemikalien, Bodenerosion, Konkurrenz mit Nahrungsmittelanbau und anderen Faktoren in der Bilanz den CO2-Ausstoß deutlich über die Werte der fossilen Brennstoffe erhöhen, und große Umweltverbände setzen sich aus diesen Gründen für eine schnelle Abschaffung des „Biotreibstoff“-zuschlags in Kraftstoffen ein. Diese Faktoren waren jedoch in den ursprünglichen Studien nicht untersucht worden.

Diese Erfahrung sollte uns lehren, eine Studie wie die des Herrn Schneider nicht vorschnell in politisches Handeln umzusetzen. Denn diese Studie betrachtet alleine den Arbeitsmarkt, und zwar zu gegenwärtigen Bedingungen, die in die Zukunft extrapoliert werden. Starke Veränderungen, die nicht unwahrscheinlich sind – zum Positiven durch neue Erfindungen und Entwicklungen, zum Negativen durch politische, gesellschaftliche oder umweltbedingte Krisen – kann niemand vorhersehen oder untersuchen.

Auswirkungen der geforderten jährlichen Einwanderung einer Großstadt (etwa der Größe Braunschweigs) auf gesellschaftliche und politische Strukturen, auf die natürlichen Ressourcen, auf Städte- und Wohnungsbau, Flächenverbrauch und Verkehrsaufkommen und vieles andere mehr könnte man untersuchen – und müsste man dringend studieren, bevor man unüberlegt dem Götzen „Arbeitsmarkt“ opfert. Paradoxerweise berichtet der Kurier wenige Seiten vor dem Interview mit Herrn Schneider über Maßnahmen gegen die jetzt schon herrschende Wohnungsnot in deutschen Städten. 

Es ist sicher unbestreitbar, dass in einigen Branchen tatsächlich ein Mangel an qualifizierten Kräften besteht – aber leider hat noch niemand untersucht, in wieweit diesem Mangel durch Wertschätzung, Qualifizierung und Aktivierung bereits im Land lebender Menschen (aller Nationalitäten) abgeholfen werden könnte. Eben so wenig war bislang Gegenstand der Untersuchung, ob der Arbeitsmarkt anders organisiert werden könnte, zum Beispiel durch Automatisierung, zeitlich befristete Arbeitsverträge mit Menschen anderer Nationalität, oder Verlagerung der Produktion mancher Branchen in die Länder, die bislang die Rohstoffe liefern und in denen die einwanderungswilligen Menschen ohnehin leben.

Es wäre dringend erforderlich, den Arbeitsmarkt den Bedürfnissen der Gesellschaft anzupassen und nicht umgekehrt – schließlich handelt es sich sowohl bei den Migranten als auch bei der aufnehmenden Gesellschaft nicht um gefühllose Arbeitskräfte, sondern um Menschen, die ihre Heimat wertschätzen, und die innerhalb menschenwürdiger Strukturen ihr Leben gestalten möchten.