Als Tagesschausprecher Jens Riewa am Sonntag Nico Schlotterbeck als ersten EM-Akteur bestätigte, dachten alle noch an einen der üblichen Leaks vor einer Turnier-Nominierung. Bald war klar: Es steckt System dahinter. Munter, fröhlich, lustig wurden nach und nach immer mehr Nagelsmann-Spieler online für die EM benannt. Von einer Brötchentüte bis zum Gratis-Döner, alles war dabei. Und der Bundestrainer schaute, vermutlich auch amüsiert, von daheim aus zu. Die Kärrnerarbeit der Kaderpräsentation wurde ihm multimedial abgenommen. Am Donnerstag kann er mit seinen EM-Botschaften im Mittelpunkt stehen.
Wie aus der Mottenkiste erscheinen die staatstragend bis gewollt symbolhaft orchestrierten Nominierungen vergangener Turniere wie im Bergsteiger-Stil vor der Alpen-EM 2008 auf der Zugspitze. Auch die Pappkameraden von Jürgen Klinsmann vor dem letzten Sommermärchen 2006 sind schon lange verstaubt. DFB-Pressesprecherin Franziska Wülle wird die geniale Idee mit den Social-Media-Clips in Häppchenform zugeschrieben. Und Nagelsmann und sein Management sind dem Vernehmen nach begeistert.
Kroos-Podcast und Döner-Bude
Am Mittwoch ging der Reigen der EM-Zusagen weiter. Robert Andrich von Nebenmann Toni Kroos höchstselbst im Podcast berufen. Joshua Kimmich von GZSZ-Schauspieler Wolfgang Bahro alias Jo Gerner. Antonio Rüdiger per Clip aus seiner liebsten Döner-Bude in Kreuzberg. Kapitän Ilkay Gündogan auf einem Werbeplakat am Alexanderplatz, im Herzen der Hauptstadt - dem EM-Finalort am 14. Juli. Auch Pascal Groß und Deniz Undav sind dabei.
Gündogan hatte den Personalkurs des Bundestrainers schon im März gelobt, obwohl viele seine Rolle als Kapitän durch das Comeback von Kroos geschwächt sahen. Er sei froh, "dass wir einen Bundestrainer haben, der eine klare Richtung vorgibt und auch mal unangenehm sein kann", sagte er der "Süddeutschen Zeitung". Der Wischiwaschi-Kurs der Spätphase von Joachim Löw und dem danach gescheiterten Hansi Flick als Bundestrainer sind Geschichte.
Wer heute überrascht ist, dass Hummels und Goretzka, oder auch Robin Gosens von Union Berlin und Kevin Trapp von Eintracht Frankfurt, im Aufgebot fehlen, der hätte im März genau zuhören müssen. "Es sind selten Mannschaften mit 20 Topstars, die erfolgreich sind", sagte Nagelsmann damals zu seinem Erneuerungskurs mit den frischen und mutigen Stuttgartern um Linksverteidiger Maximilian Mittelstädt.
Hummels Tor zum Endspiel wertlos für EM
"Junge Herausforderer" habe er gesucht. "Die Stimmungsträger sind, die diese Rolle akzeptieren." Kein Reviergehabe von gealterten Platzhirschen. Da hätte Hummels offenbar noch so viele Tore für den BVB auf dem Weg ins Champions-League-Finale schießen können. "Generell ist die Idee, dass wir einen Großteil des Stamms jetzt dabeihaben. Sonst wäre die Entscheidung hirnrissig", erklärte der Bundestrainer seine Kaderpolitik.
Seine eigene Vita lebt er damit konsequent weiter. Selbst wegen früher Verletzung nie zum Profi in höheren Ligen aufgestiegen, setzt Nagelsmann auf Spirit mehr als auf Erfahrung. "Gegen Kylian Mbappé tun sich viele schwer, auch mit 200 Champions-League-Spielen", sagte er.
Es sind kleinere Stellschrauben, die Nagelsmann noch selbst verkündet. Darf Stuttgarts Alexander Nübel als eventuell vierter Torwart hinter Manuel Neuer, Marc-André ter Stegen und möglicherweise Oliver Baumann mit ins Trainingslager? Wer profitiert letztlich von der Aufstockung auf bis zu 26 EM-Spielern? Hoffenheims Maximilian Beier? Oder doch Jan-Niklas Beste vom 1. FC Heidenheim, der selbst nicht mehr mit einem EM-Anruf rechnet?
Potenzielle Randfiguren in jedem Fall. Und Turnier-Lehrlinge - wie Nagelsmann, der auch zum ersten Mal bei einem Großereignis eine Fußball-Nation anführt. Ein Risiko? Nein, meint Nagelsmann selbst. "Ich mag nicht, dieses "Was passiert wenn?" Das bringt uns nichts. Da ist das Leben, das ist groß. Und da ist der Fußball, und der macht immer Spaß. Wenn es uns erdrückt, dann hören wir auf mit Fußball", sagte Nagelsmann im März - und gewann am folgenden Tag mit 2:0 auswärts in Lyon gegen Frankreich.