Max Reger wird Sie umhauen!

Von Moritz Eggert

Schwelger, Schwerarbeiter, Genie: Vor hundert Jahren, am 11. Mai 1916, starb in Leipzig der Querkopf Max Reger. Zu Lebzeiten war der Oberpfälzer der meistgespielte deutsche Komponist. Heute sind weite Teile seines Werkes unbeachtet. Dabei müsste man ihn eigentlich umarmen.

 
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Was ist es nur, dass man manche Komponisten vor allem durch ihre Anekdoten kennt, nicht aber wegen ihrer Musik?

Max Reger ist so ein Fall. Aus dem Stegreif kann jeder Musiker mehrere Max Reger-Anekdoten nennen. Der Mann benutzte schlechte Kritiken als Toilettenpapier (oder gab vor, es zu tun).

Er aß unmäßig, übergab sich auf der Bühne, komponierte zu vollkommen unpassenden Gelegenheiten, auch während der Konversation mit Gästen. Alles bei ihm war überlebensgroß, auch er selber war es.

Zwei passend, einer ganz anders

Seine eindrückliche Persönlichkeit überstrahlt alles. Es gibt sogar ein Bier, das nach ihm benannt ist. Wie es aber in ihm aussah, wissen wenige, und man kann es vielleicht nur in seiner Musik lesen. Über die wird auch gesprochen, aber das geschieht am ehesten in Theoriebüchern und musikwissenschaftlichen Abhandlungen. Reger ist ein sogenannter „Schwellenkomponist“, verloren im Niemandsland zwischen Spätromantik und beginnender Moderne. Man kann ihn nicht so genau einordnen, genauso wenig wie man den (ebenso unbequemen) Hugo Wolf zu fassen bekommt, oder auch den ganz späten Brahms, oder später Hans Pfitzner.

Mein erster Kompositionslehrer Claus Kühnl hat mir das mal so erklärt: Reger habe nach der einfachen Regel komponiert, dass jeweils zwei Akkorde ins Regelsystem des traditionellen Tonsatzes passen sollten. Beim jeweils dritten Akkord dürfe man aber machen was man wolle. „Und das kann man bei Reger manchmal abzählen!“ sagte Kühnl stolz. Kühnl kannte Reger wirklich gut (und liebte ihn) – er hatte sein Klavierkonzert geübt, weil es ihm als Komponisten wegen der vielen Akkorde gut in den Fingern lag. Jeder dritte Akkord also: ein „verrückter“ Akkord. Natürlich ist es ganz so einfach nicht, aber es ist eine Tatsache dass Melodik und Rhythmus Reger deutlich weniger interessierten als raffinierte Modulationen.

Ab und zu lese ich meiner Tochter das schöne Märchen von Michael Ende mit dem „Traumfresserchen“ vor. In diesem Märchen gibt es ein gieriges Männlein, das den Kindern die Alpträume buchstäblich wegfrisst. Max Reger dagegen war ein Akkordfresserchen.

Er kann überfordern. Aber auch enorm Spaß machen

Seine Gier nach immer neuen raffinierten harmonischen Wendungen ist nicht nur grenzenlos, sondern auch berüchtigt. Nur wenige wagen sich an eine klassische Analyse des Regerschen Werkes, denn ihnen droht der Gehirnkollaps. Reger geriert sich dabei tatsächlich manchmal wie ein kleines Teufelchen, das den Hörer immer wieder an der Nase herumführt, schnelle und überraschende Wendungen vollführt und dann am Ende ganz woanders ankommt, als man ursprünglich ahnte. Das kann – wenn man sich darauf einlassen will – enormen Spaß machen. Kann aber auch zu einer Art von Überforderung führen, die viele abschreckt.

Ich gebe zu – manchmal geht es auch mir so, dass auf mich Regers Musik wie ein besonders leckerer, aber eben auch fettiger und reichhaltiger Schweinebraten wirkt (den Reger selber gerne stundenweise, nicht portionsweise im Lokal bestellte). So lecker das ist – manchmal ist es einfach zu viel des Guten. Und das sage ich als Komponist, den Harmonien und Polyphonie ebenfalls besonders interessieren.

Irgendwie kann man das ja immer erkennen, ob Komponisten von der „Tastatur“ kommen, ob sie Organisten oder Pianisten waren oder sind. Die Finger führen dann immer ein Eigenleben, der eine Finger will hier hin, der andere dorthin, daraus entsteht Polyphonie. Wer seine Finger laufen lässt und diesem Eigenleben traut, kreiert automatisch modulierende Musik. Dieser haptische Aspekt wird oft unterschätzt, nur selten liest man in einem Theoriebuch, wie sich ein Akkord „anfühlt“.

Reger hätte sich großartig mit Oscar Peterson vertragen

Im Jazz ist das alles ganz natürlich – man kann schnell erkennen, dass bestimmte Standards von Akkordwechseln fast zwangsläufig aus der „Griffigkeit“ einer schnellen improvisierten Begleitung entstehen, und das ist gut so, denn wo Musik an sich spielt und ausprobiert, ist sie selten langweilig. Man kann sich Max Reger durchaus neben einem „Akkordfresserchen“ wie Oscar Peterson vorstellen – die beiden hätten sich großartig verstanden.

Und das gefällt dem Komponisten aber eben auch Pianisten in mir bei Reger enorm – das ist definitiv immer „griffig“, und um so etwas zu komponieren, musste Reger noch nicht einmal am Klavier sitzen, er konnte diese Griffigkeit geistig abrufen.

Fast schon beängstigend ist die große Leichtigkeit der Regerschen Raffinesse, die Erhabenheit seines Könnens und seiner Technik. Was besonders interessant ist: anhand der Regerschen Anekdoten könnte man denken, dass es sich bei seiner Musik um etwas „Spaßiges“ handeln müsse, aber ganz das Gegenteil ist der Fall. Regers Musik kann manchmal frech sein, albern oder vordergründig witzig ist sie nie. Tatsächlich wohnt ihr sogar ein großer Ernst inne, der im scharfen Kontrast zu Regers nach außen getragener Persönlichkeit steht, die eher von ätzendem Sarkasmus geprägt ist.

Moritz Eggerts Youtube-Empfehlung: Die großartige Annelies Burmeister singt „Hymnus der Liebe“.

Ein großartiger Hymnus

Und hier wird es dann besonders spannend (wenn man sich darauf einlässt): Ich fordere die Leser dieser Zeilen auf, sich mit meinem Lieblingswerk von Reger zu befassen, dem fast nie gespielten „Hymnus der Liebe“ für Orchester und Stimme, eine Klavierfassung gibt es auch. Das ist so großartige Musik, dass man Reger umarmen möchte! Natürlich, es ist ein Versuch, dem Wagnerschen Geist nahe zu kommen, aber auf so eigene und eindringliche Weise, dass es mich beim ersten Hören schlicht umgehauen hat. Ich verspreche Ihnen: Es wird Ihnen auch so gehen.

Ich halte den „Hymnus der Liebe“ für eines der großartigsten Orchesterlieder überhaupt, und es entfaltet sich darin eine Innigkeit und Intensität des Ausdrucks, die viele Reger nicht zutrauen würden.

Aber das liegt einfach daran, dass sie ihn nur aus Anekdoten kennen.