Ex-Vizekanzler Franz Müntefering stellt sein Buch übers Altern vor

Von Julian Seiferth

BAYREUTH. Franz Müntefering war schon vieles: Vize-Kanzler, Bundesminister, Generalsekretär und später Vorsitzender der SPD. Von Ruhestand kann auch heute keine Rede sein. Auf ein Wort mit einem, der schon fast alles gesehen hat.

 
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Auch ein Franz Müntefering ist nicht vor der Deutschen Bahn gefeit. Eine halbe Stunde zu spät erreicht der 79-Jährige Bayreuth. Als er aussteigt, wird er sofort fotografiert, schüttelt Hände. Danach gibt er seinen Schirm ab und steigt ins Auto – es geht in das evangelische Gemeindehaus in der Bayreuther Fußgängerzone.

Möglich gemacht hatte das Treffen Elisabeth Zagel von der Evangelischen Familien-Bildungsstätte in Bayreuth. Sie lud Müntefering nach Bayreuth zur Lesung in das Evangelische Gemeindehaus ein.  

Hier wird Müntefering später am Abend aus seinem neuen Buch vorlesen. „Unterwegs“ heißt es und handelt vom Älterwerden „in dieser Zeit“. „Die Dinge verändern sich“, erzählt der 79-Jährige im Kurier-Gespräch, das R rollt nach wie vor. „Ich werde bald 80 Jahre alt. Dann bin ich fünf Jahre älter, als mein Vater es wurde.“ Die Menschen lebten länger, seien aber gleichzeitig im Alter gesünder und beweglicher als jemals zuvor.

„Das Altern“, sagt Müntefering, „ist so eine Sache. Man wird von alleine alt.“ Dann beginnt er, von seiner Jugend zu erzählen: „Ich dachte immer, dass meine Mutter mit Mitte 30 schon eine alte Frau war.“ Alte Menschen seien immer dunkel gekleidet gewesen, hätten nicht mehr im Leben gestanden und sich zurückgezogen. Eine Ausnahme sei für ihn immer sein Großvater gewesen: Franz, ein Schäfer. „Ein sehr weiser Mann. Er hat in der Natur gelebt und sie erklärt, wie das heute keiner mehr kann.“

Lange Zeit hatte Müntefering Angst vor Flugzeugen

Dass das Altern in Würde nicht allen gelingt, habe er bei einem Klassentreffen vor wenigern Jahren erkannt. „Bei einigen war das Gespräch sofort wieder da, als hätte man sich gestern zuletzt gesprochen. Bei anderen war es einfach so, dass da nichts mehr war.“ Menschen entwickelten sich unterschiedlich. „Das Geburtsalter ist nicht das Entscheidende. Einige bleiben interessiert und neugierig, das hält jung.“

An seine Kindheit erinnere er sich gerne zurück, wenn auch nicht an alles. „Ich habe die Bomben im Krieg miterlebt und die Soldaten mit Gewehren im Anschlag.“ Lange sei ihm die Angst vor Flugzeugen erhalten geblieben. „Auch als der Krieg vorbei war, habe ich mich noch in die Büsche geschlagen, wenn ich das Geräusch hörte“, erzählt Müntefering.

Die Schule hat er in guter Erinnerung – weil es dort regelmäßiges Essen gab. „Wenn ich draußen spielte und den Küchenschrank hörte, bin ich nach innen gerannt. Ich hatte Angst, dass das Essen weg ist.“

Früher wurden sogenannte Mischehen bekämpft

Aus seinen Erfahrungen spannt Franz Müntefering immer wieder den Bogen in die Gegenwart. „In meiner Jugend war die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, sehr zurückhaltend“, erzählt er. „Ich war in einer katholischen Schule. Als die Evangelischen zu uns kamen, wurde eine eigene Schule gebaut, die sind sogar in eigene Siedlungen gekommen.“ Die Vorurteile hätten ihn erschrocken. Sogenannte Mischehen zwischen den Konfessionen wurden bekämpft. Für ihn unverständlich: „Wir haben nach der Schule zusammen Fußball gespielt. Die evangelischen Mädchen waren auch alle nett anzuschauen“, erzählt Müntefering. Bis heute sei ihm diese Zeit eine Lehre. „Wie gehen wir mit anderen Menschen um? Haben wir immer noch diesen Hochmut?“

Das Land müsse sich immer wieder neu gegen dieses Gedankengut auflehnen: „1938 war die Reichspogromnacht . Am Morgen danach hat sich das Land nicht gewehrt. Das war für die Nazis die Generalprobe. Dann haben die gemacht, was sie wollten“, sagt Müntefering. Die Aufklärung über diese Zeit müsse immer weitergehen.

Bei Fridays For Future wäre er dabei

Wenn der 79-Jährige von Veränderungen spricht, meint er damit auch die Demokratie, wie er sagt: „Früher hatten die Parteien das Primat der Meinungsbildung. Wenn bei uns der Adenauer kam, haben dem zehntausende Menschen zugehört.“ Heute sei das anders: Jeder könne sich immer über alles informieren, die Tiefe gehe dabei verloren. „Wenn wir nur noch über alles mögliche quatschen, sorgt das für Oberflächlichkeit. Wir müssen uns Zeit nehmen und Gespräche pflegen.“ Mit Handys seien die Menschen ständig an allen Orten der Welt unterwegs – nur nicht bei ihren Mitmenschen. „Da ist so viel Exhibitionismus dabei. Das interessiert mich alles nicht, das will ich nicht.“

Wäre er heute jung, so Müntefering, würde er wohl bei Fridays For Future mitlaufen. „Ich bin einer von denen, die Einfluss auf diese Entwicklungen genommen haben. Leider haben wir es nicht geschafft, ganz große Lösungen zu erreichen“, sagt der 79-Jährige. Auch er habe in seiner Jugend für etwas gestritten. „Bei uns war es der Kampf dafür, dass es genug Essen gab.“ Das sei damals wie heute eine Frage der Solidarität: „Die Katastrophe wird zuerst die Armen treffen. Was wir heute erleben, ist erst der Vorbote.“

Ob es ihn noch in den Fingern juckt? Müntefering lacht und sagt: „Ich könnte heute keine Politik mehr machen, aber das ist in Ordnung. Mein Leben ist nicht besser oder schlechter. Es ist anders.“

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