Das Ukraine-Tagebuch „Die Raketen klingen wie ein Tornado“

Thomas Simmler Foto: privat

Thomas Simmler aus Mainleus hat nach seinem Umzug in den Westen der Ukraine dort erstmals einen russischen Angriff erlebt. Er erklärt, worin sich Russen und Ukrainer am meisten unterscheiden.

 
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Haben Sie schon mal eine Rakete gehört, wenn sie am Himmel über einen hinwegzischt? In den sechs Monaten in Marhanez war das für mich wegen der nahen Front ganz normal. Im Westen der Ukraine, wo ich jetzt bin, hab ich es in diesen Tagen das erste Mal erlebt. Die erste Rakete kam mittags um 12. Einige haben sie sehen können, ich habe sie gehört. Ein gewaltiges Zischen war das am Himmel. Wie bei einem Tornado.

In der Nacht zum Donnerstag kam es noch heftiger. Ich konnte nicht schlafen. Das ist ungewöhnlich. Wahrscheinlich hatte ich eine Vorahnung. Um zwei Uhr nachts ging der Luftalarm los. Eine Stunde später hat es dann fürchterlich geknallt. Die ukrainische Luftabwehr hatte zwei russische Raketen erwischt. Die dritte ist ein paar Kilometer weiter in ein E-Werk eingeschlagen. Die Raketen kommen von einem Kriegsschiff der Russen am Schwarzen Meer.

Zum Glück ist niemandem etwas passiert. Die Luftabwehr muss in direkter Umgehung von Truskawez stehen. Wo genau, weiß ich nicht. Das ist streng geheim. Aber der Lärm war ohrenbetäubend. Als wäre ein Überschall-Jet über die Stadt geflogen.

Ich habe einen Tag gebraucht, bis die Beklemmung sich gelöst hat. Diese Geräusche bringen einem den Krieg zurück. Das ist wirklich verrückt. Die Leute in den umkämpften Gebieten erleben so etwas jeden Tag. Für die ist das alles längst Alltag. Mir hat dieser Raketenangriff im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt, dass ich hier in einem Land lebe, in dem ein schrecklicher Krieg wütet.

Manch einer fragt mich, was die größten Unterschiede zwischen Ukrainern und Russen sind. Ich habe in Russland sieben Jahre verbracht. Die Propaganda im Fernsehen ist dort ein massives Problem. Den ganzen Tag werden die Menschen mit der Botschaft beschallt: „ Russland ist der Nabel der Welt und der Präsident ist alles.“ So wie früher der Zar. Alles schaut auf ihn, jedes Wohl und Wehe ist von ihm abhängig. Das glauben tatsächlich viele.

In der Ukraine ist es ganz anders. Die Zivilgesellschaft ist viel stärker. Die Renten sind klein, bei der Krankenversicherung sieht es düster aus und so weiter. Das heißt, die Menschen erwarten wenig vom Staat. Sie wissen, dass sie sich um ihr Schicksal selbst kümmern müssen. Das tun sie auf fast italienische Art und Weise. Ungeheuer freundlich im Umgang miteinander, aber auch mit Gästen und Fremden.

Und der Präsident ist einer von vielen. Natürlich sehr wichtig. Er hält das Volk zusammen. Aber nicht mit Doktrin und Zwang wie in Russland, sondern, indem er die Menschen motiviert und ihnen zeigt: Ich bin einer von Euch.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit vielen Monaten in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er nun im Kurort Truskawez im Westen des Landes untergekommen.

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