Will Regisseur Hans Neuenfels 167 Rattenköpfe und 300 Rattenschwänze, verlängerte Füße und Klauenhände, ist die Maskenbildnerin und Plastikerin in ihrem Element. Es ist erst ihre zweite Saison bei den Bayreuther Festspielen. Der Auftakt aber war mit dem „Lohengrin“ für sie gleich eine Sensation.Die Leiterin der Maske überschlägt sich fast, kommt sie auf die Neuinszenierung der 99. Bayreuther Festspiele zu sprechen. Eine solch personell große, ästhetisch durchdachte und bis zum letzten Knopf perfektionierte Produktion habe sie noch nie erlebt. Mit so vielen Aufträgen am Konzept beteiligt zu werden, sei auch nicht selbstverständlich. „Die Arbeit am ,Lohengrin‘ hat für mich in meiner beruflichen Laufbahn eine Zäsur gesetzt.“ Hände formen KöpfeBegeistert war sie schon, als sie Mitte August 2009 – als noch keiner von der Rattenflut, die den Hügel 2010 überschwemmen würde, wusste – die Köpfe übernahm. 167 Rattenköpfe wohlgemerkt. Sie sollte bald genug von ihnen sehen. Denn jeden Einzelnen von ihnen fertigte Anette Biedinger in Handarbeit nach einem selbst erstellten Modell. Vom 1. September bis 1. Juni, acht bis zehn Stunden am Tag, am ersten Weihnachtsfeiertag genauso wie zu Silvester. Schwarze, weiße, rosa Ratten. Selbst die Kinder und ihr Mann halfen mit. Wurde es ihr zu viel? „Auf gar keinen Fall, ich habe nur mit Tränen in den Augen andere Aufträge abgesagt.“ Denn seit sieben Jahren ist die an der Dresdner Kunsthochschule ausgebildete Maskenbildnerin und Plastikerin selbstständig. Fertigte vor allem große, animierte Figuren für Freizeitparks – darunter Drachen, Gespenster und laufende Kürbisse. Im Herbst fragte der Europapark an, ob sie einen lebensgroßen Wal machen könne. Nein, konnte sie nicht. Sie steckte bis zur hohen Werkstattdecke in Rattenköpfen.Ausmisten, inventarisieren und neu strukturieren: das waren ihre Aufgaben, als sie vor einem Jahr die Stelle als Leiterin der Maskenabteilung antrat. Die Abteilung habe keine guten Ruf mehr gehabt, sei etwas angestaubt und ästhetisch altmodisch gewesen. „Das sah alles nach altem Theater aus. Die neue Festspielleitung wollte etwas Neues, wollte feinere, modernere Arbeit und die Fähigkeiten einer Plastikerin.“Die ganze Abteilung wurde auseinandergenommen, viel weggeschmissen, sogar Kisten fürs Museum gepackt – „ich glaube, da war sogar noch was aus den Anfangsjahren des Hauses dabei“. In ihrem neuen Büro tauschte sie die große Couch gegen Schreibtisch und Computer und begann ein Archiv mit Maßen der Sänger und Choristen anzulegen, „das war sehr lückenhaft“. Im Herbst wurde die Abteilung schließlich nach ihren Plänen komplett renoviert und umgebaut – seither gibt es 22 Schminkplätze, Schubladenschränke mit Echthaar in allen erdenklichen Farben, große Waschbecken zum Reinigen der Perücken und moderne Schminkutensilien.Ihr Team sei ein Glücksfall, sagt die Leiterin. Alle 32 Mitarbeiter konnte sie selbst auswählen. „Sie sind ausgesprochen gut.“ Die meisten von ihnen sind fest angestellte Maskenbildner an großen Theater- und Opernhäusern, etliche selbst dort in Leitungsfunktion. „Wir können uns austauschen und voneinander lernen, das genieße ich sehr. Das ist hier ein Umschlagplatz von Profis.“ Eine wichtige Änderung im Arbeitsablauf des Hauses sei mit ihrer Besetzung vorgenommen worden: große Masken und Kopfbedeckungen seien aus der Kostümabteilung wieder in die Maske verlagert worden. „Das macht Sinn, da man häufig Abdrücke vom Gesicht nehmen muss.“ Sowohl Maskenbildnerin als auch Plastikerin zu sein sei selten, sagt Biedinger, obwohl es naheliege. So konnte auch der Wunsch nach dem Embryo in der „Lohengrin“Inszenierung problemlos umgesetzt werden. Aus Fäden werden AdernVier Wochen lang arbeitete Biedinger an dem überdimensionalen Embryo-Kopf. Nahm dafür einen Gesichtsabdruck des jugendlichen Statisten Marius Adler, goss den mit Gips aus, modellierte mit Knetmasse darauf die Kopfform und überzog das schließlich mit verschiedenen Silikonschichten. Blaue und rote Wollfäden wurden zu Adern. Von der Thannen gefiel die Umsetzung – Biedinger hatte nach einer Zeichnung als Vorlage sein Konzept realisiert. Erst zur ersten Probe war der Kopf fertig, keiner hatte ihn gesehen und der Chor erlebte im dritten Akt „Lohengrin“, als Gottfried erscheinen soll, sein embryonales Wunder.„Als sich das Ei drehte und sie mich das erste Mal sahen, platze es aus einem heraus: ,Ach du Scheiße ist der hässlich‘, erzählt der zwölfjährige Marius Adler lachend. „Sie waren so überrascht, dass ein ziemlich lautes Raunen durch den Chor ging.“ Seit vier Jahren ist der Schüler vom GMG Statist am Festspielhaus. Bisher spielte er einen Nibelungen und den jungen Parsifal. Dass er jetzt hinter der Bühne mit den Worten begrüßt wird: „Bist du nicht das hässliche Kind?“ oder „Gut, dass du noch einen zweiten Kopf hast“, stört ihn nicht.Die Maskenbildnerin aus dem Erzgebirge hat schon an vielen Theaterhäusern in Deutschland gearbeitet, Bayreuth aber sei etwas Besonderes. „Die Ausstattung hier ist einfach besonders, der Chor ist größer, jeder Regisseur will etwas Tolles machen. Bis man an anderen Häusern mal einen Knaller machen kann, dauert es. Hier ist es geballt.“Etwas schwierig sei, so lange von ihren drei Kindern getrennt zu sein – „Erziehung übers Telefon funktioniert nicht wirklich“, und ihr Mann vermisse sie schrecklich. Aber sie liebt die Arbeit und das Treiben hinter der Bühne. Derzeit laufen bereits die Vorbesprechungen für den „Tannhäuser“ 2011 und schon einige vage Vorplanungen für den „Holländer“ 2012. Natürlich verrät sie noch nichts von der Ausstattung. Aber Rattenköpfe wird sie in diesem Winter nicht fertigen. Sie wendet sich größeren Plastiken zu: neuen Märchenfiguren für den Europapark.