Andreas Düllick ärgert sich, wenn Obdachlose und Flüchtlinge gegeneinander ausgespielt werden Strassenfeger-Chefredakteur: "Jeder Flüchtling ist erstmal obdachlos"

Von Moritz Kircher
Andreas Düllick, Chefredakteur der Berliner Obdachlosenzeitung "Strassenfeger", bei der Blattabnahme. Foto: red Foto: red

Mehr als eine Viertelmillion Menschen leben in Deutschland offiziell ohne ein Dach über dem Kopf. Andreas Düllick, Chefredakteur der Obdachlosenzeitung "Strassenfeger", schätzt, dass die Dunkelziffer noch viel höher liegt. Tut Deutschland zu wenig für seine Obdachlosen? Das schon, sagt er im Kurier-Interview. Aber er verwahrt sich ausdrücklich dagegen, sie mit diesem Argument gegen Flüchtlinge auszuspielen.

 
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Muss in Deutschland ein Mensch obdachlos sein, wenn er sich anstrengt, es nicht zu sein?
Andreas Düllick: Die Frage kann man so einfach nicht beantworten. Es kommt sicher darauf an, in welcher Stadt jemand lebt. Ob es dort genügend Plätze für obdachlose Menschen gibt. Generell kann man sagen, dass es viel zu viele Wohnungslose und Obdachlose gibt. Ich unterscheide da auch. Obdachlose sind Menschen, die einfach gar nichts haben, die tatsächlich auf der Straße schlafen. Wohnungslose sind Menschen, die keine eigene Wohnung haben, aber irgendwo untergebracht sind. Die Zahl der Obdach- und Wohnungslosen ist so groß, dass ich sicher bin, dass wir zurzeit mit den derzeitigen Hilfesystemen nicht alle diese Menschen unterbringen können.

Wie viele wohnungslose Menschen gibt es in Deutschland?
Düllick: Momentan sind es laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe rund 284.000. Aber was sagt eine solche Statistik schon aus. Die Dunkelziffer ist sicher viel höher.

Wenn man in einer Stadt keine Obdachlosen sieht, gibt es dann keine?
Düllick: Obdachlosigkeit ist nicht nur ein sichtbares Problem. Nicht umsonst gibt es die Ausstellung die Unsichtbaren, in der es um Obdachlosigkeit geht und die momentan durch Deutschland tourt. Obdachlosigkeit ist vor allem unsichtbar. Viele Menschen sieht man nicht. Oder man will sie gar nicht sehen. Und viele Menschen möchten auch nicht in ihrer Armut, ihrem Elend und ihrer Not beobachtet werden. Sie ziehen sich in dunkle Ecken zurück. Selbst in einer aufgeräumten, sauberen Stadt wird es sicherlich den ein oder anderen obdachlosen Menschen geben, den man nie sieht, wenn man sich nicht dahin begibt, wo diese Menschen sich für gewöhnlich aufhalten.

Werden Obdachlose auch an diese unsichtbaren Orte gedrängt?
Düllick: Nehmen Sie mal das Beispiel von unserem Verein mob e.V. Wir haben im letzten Jahr unsere Räume verloren. Unsere Vermieterin wollte uns nicht mehr. Sie sagte, der Bezirk Pankow habe sich so entwickelt, dass für ein Projekt wie unseres hier kein Platz mehr ist. Das bedeutete, dass wir uns was Neues suchen mussten. Es wäre sicherlich einfacher gewesen, was am Stadtrand von Berlin zu finden. In der Mitte ist es extrem schwierig. Obwohl es sehr viel Leerstand gibt, auf den wir auch Politiker angesprochen haben. Aber es führte kein Weg rein. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen zu sagen: Wir haben hier was für euch. Da könnt ihr Obdachlosenarbeit machen. Aber das will natürlich keiner. Für die Politik ist es auch schwierig. Gerade jetzt mit den Flüchtlingsströmen muss sie ans Eingemachte. Da müssen auch Leute in jedem Bezirk in Berlin untergebracht werden. Auch im Stadtzentrum. Dort gibt es Leerstand, z. B. die ehemalige Stasi-Unterlagenbehörde. Ein großer Gebäudekomplex , der seit langem leer steht. Die Politik möchte aber im Herzen Berlins nicht gerade Obdachlose Menschen oder Flüchtlinge unterbringen.

Sie sprechen die Flüchtlinge an. Aus einer bestimmten Ecke kommt immer das Argument: Tut doch erst einmal was für unsere Leute, die auf der Straße sitzen. Hat das eine etwas mit dem anderen zu tun?
Düllick: Das Phänomen kennen wir natürlich. Und es ist ein Prinzip für uns, dass wir keine Fronten zwischen Obdachlosen und Flüchtlingen aufmachen. Jeder Flüchtling ist erstmal obdachlos. Und es hilft auch keiner Gruppe weiter, wenn man sagt, ihr bekommt mehr und wir bekommen weniger. Beide Probleme müssen gelöst werden. Man muss beiden Gruppierungen ein Angebot machen und versuchen, ihnen lebenswerte Verhältnisse zu bieten. Natürlich könnte man sagen, der Staat macht sehr viel für Flüchtlinge. Aber dazu ist er verpflichtet. Und genauso ist er verpflichtet, seinen obdachlosen Bürgern zu helfen. Nur findet das momentan nicht so statt, wie wir Akteure das in der Obdachlosenarbeit gerne hätten. Aber die Welt ist zurzeit eben nicht so, wie man sich das wünscht. Menschen verlieren ihre Heimat und ihre Dächer über dem Kopf. Und dann wollen sie in sichere Länder. Wir reden da über Leute, die in tiefster Not sind. Da machen wir keine Front auf.

Werden mit diesem Argument also Obdachlose und Flüchtlinge gegeneinander ausgespielt?
Düllick: Ja, das ist natürlich sehr populistisch. Es ist doch vollkommen klar, wohin da die Reise gehen soll. Selbst unter den Ärmsten der Armen gibt es immer Gegensätze. Deutsche Obdachlose sind sich manchmal untereinander auch nicht grün. Das hat man natürlich auch unter deutschen und ausländischen Obdachlosen und zwischen Obdachlosen und Flüchtlingen. Das ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Aber wir lassen uns nicht für populistische Zwecke missbrauchen. Das ist nicht unser Ding. Wir möchten wirklich, dass es beiden Gruppen gut geht.

Deutschland ist eine wohlhabende Gesellschaft. Und trotzdem sitzen Leute auf der Straße. Brauchen Obdachlose eine lautere Stimme?
Düllick: Es heißt immer, Obdachlose haben keine Lobby. Das ist tatsächlich so. In Berlin wollen Dieter Puhl - das ist der Chef der Bahnhofsmission am Zoo - und ich ins Abgeordnetenhaus reingehen und sagen: Ihr müsst unbedingt eine Arbeitsgruppe Obdachlosigkeit aufmachen. Das fängt an mit einer Obdachlosenstatistik, die es in Berlin seit Jahren nicht gibt. Die Grundlage für eine nachhaltige Politik ist also gar nicht da. Wenn man keine Zahlen hat und nicht weiß, wer die Menschen sind, dann kann man auch keine Politik machen und keine Lösungsvorschläge unterbreiten. Wir brauchen Lobbyisten, Politiker, die ein Herz für obdachlose Menschen haben. Da wollen wir ran. In Berlin bräuchten wir 20 Millionen Euro, um nachhaltige Obdachlosenpolitik zu machen. Und da ist es unsere Aufgabe als soziale Straßenzeitung, ein Sprachrohr zu sein. Wir müssen die Kritik unter die Leute bringen.

Funktioniert das?
Düllick: Ich habe sogar schon mit dem Bundespräsidenten gesprochen. Er will sich dafür einsetzen, hat aber natürlich auch viele andere Sachen zu tun. Ich habe mit dem Chef der Deutschen Bahn gesprochen. Die Bahn tut sehr viel für Obdachlose. Man muss versuchen, sich ein Netzwerk von engagierten Menschen, aufzubauen, die vielleicht auch politisch mal etwas anstoßen können. Da ist eine Zeitung wie der "Strassenfeger" genau das richtige Instrument.

Was ist das Ziel von Obdachlosenpolitik? Geht es darum, dass alle Menschen irgendwann wieder in einer Wohnung wohnen?
Düllick: Es geht um mehrere Dinge. Natürlich wollen wir erreichen, dass so wenig Menschen wie möglich auf der Straße leben müssen. Man darf aber auch nicht sozialromantisch sein. Bei allen werden wir das nicht schaffen, weil einige Menschen das auch gar nicht wollen. In manchen Unterkünften gibt es Gewalt, da ist es eng. Das halten manche nicht aus. Dazu kommt, dass viele Menschen gar nicht mehr in der Lage sind, in einer eigenen Wohnung zu wohnen. Die Leute sind psychisch krank, physisch krank, drogenabhängig, Messies. Da müssen wir an die Ursachen ran. Und das schafft man nur mit Einzelfallhilfe. Ich kann nicht einem Obdachlosen, der multiple Probleme hat, einfach eine Wohnung geben. Dann macht er genau das, was er vorher auch gemacht hat. Er verliert die Wohnung, weil er seine Probleme nicht bewältigen kann. Man muss sich also um den  Menschen selbst kümmern. Und das ist eine Aufgabe, von der ich nicht weiß, ob unser Staat in der Lage ist, sie zu leisten. Denn das kostet natürlich Geld. Das braucht erheblichen Einsatz von Sozialarbeitern. Aber man muss davon wegkommen, dass obdachlose Menschen abgetan werden, indem man sagt: Die sind sowieso verloren, die sind der Abschaum. Wir müssen hinschauen, wir müssen sie wahrnehmen und überlegen, wie wir ihnen helfen können.

Zur Person

Andreas Düllick (55) hat Koreanistik an der Humboldt-Universität studiert. Seine erste berufliche Station war eine Auslandsredaktion einer Nachrichtenagentur. Danach war er Radio-Journalist und freier Fernsehproduzent. Nach einer beruflichen Auszeit hat er die ersten Artikel für den "Strassenfeger" geschrieben und ist in seinen heutigen Job hinein gewachsen. "Als Chefredakteur einer anderen Zeitung verdient man natürlich viel mehr Geld", sagt Düllick. "Man hat aber weniger Möglichkeiten. Wir können als Zeitung machen, was wir wollen. Das macht den Job so unheimlich aufregend."

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