Werden mit diesem Argument also Obdachlose und Flüchtlinge gegeneinander ausgespielt?
Düllick: Ja, das ist natürlich sehr populistisch. Es ist doch vollkommen klar, wohin da die Reise gehen soll. Selbst unter den Ärmsten der Armen gibt es immer Gegensätze. Deutsche Obdachlose sind sich manchmal untereinander auch nicht grün. Das hat man natürlich auch unter deutschen und ausländischen Obdachlosen und zwischen Obdachlosen und Flüchtlingen. Das ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Aber wir lassen uns nicht für populistische Zwecke missbrauchen. Das ist nicht unser Ding. Wir möchten wirklich, dass es beiden Gruppen gut geht.
Deutschland ist eine wohlhabende Gesellschaft. Und trotzdem sitzen Leute auf der Straße. Brauchen Obdachlose eine lautere Stimme?
Düllick: Es heißt immer, Obdachlose haben keine Lobby. Das ist tatsächlich so. In Berlin wollen Dieter Puhl - das ist der Chef der Bahnhofsmission am Zoo - und ich ins Abgeordnetenhaus reingehen und sagen: Ihr müsst unbedingt eine Arbeitsgruppe Obdachlosigkeit aufmachen. Das fängt an mit einer Obdachlosenstatistik, die es in Berlin seit Jahren nicht gibt. Die Grundlage für eine nachhaltige Politik ist also gar nicht da. Wenn man keine Zahlen hat und nicht weiß, wer die Menschen sind, dann kann man auch keine Politik machen und keine Lösungsvorschläge unterbreiten. Wir brauchen Lobbyisten, Politiker, die ein Herz für obdachlose Menschen haben. Da wollen wir ran. In Berlin bräuchten wir 20 Millionen Euro, um nachhaltige Obdachlosenpolitik zu machen. Und da ist es unsere Aufgabe als soziale Straßenzeitung, ein Sprachrohr zu sein. Wir müssen die Kritik unter die Leute bringen.
Funktioniert das?
Düllick: Ich habe sogar schon mit dem Bundespräsidenten gesprochen. Er will sich dafür einsetzen, hat aber natürlich auch viele andere Sachen zu tun. Ich habe mit dem Chef der Deutschen Bahn gesprochen. Die Bahn tut sehr viel für Obdachlose. Man muss versuchen, sich ein Netzwerk von engagierten Menschen, aufzubauen, die vielleicht auch politisch mal etwas anstoßen können. Da ist eine Zeitung wie der "Strassenfeger" genau das richtige Instrument.
Was ist das Ziel von Obdachlosenpolitik? Geht es darum, dass alle Menschen irgendwann wieder in einer Wohnung wohnen?
Düllick: Es geht um mehrere Dinge. Natürlich wollen wir erreichen, dass so wenig Menschen wie möglich auf der Straße leben müssen. Man darf aber auch nicht sozialromantisch sein. Bei allen werden wir das nicht schaffen, weil einige Menschen das auch gar nicht wollen. In manchen Unterkünften gibt es Gewalt, da ist es eng. Das halten manche nicht aus. Dazu kommt, dass viele Menschen gar nicht mehr in der Lage sind, in einer eigenen Wohnung zu wohnen. Die Leute sind psychisch krank, physisch krank, drogenabhängig, Messies. Da müssen wir an die Ursachen ran. Und das schafft man nur mit Einzelfallhilfe. Ich kann nicht einem Obdachlosen, der multiple Probleme hat, einfach eine Wohnung geben. Dann macht er genau das, was er vorher auch gemacht hat. Er verliert die Wohnung, weil er seine Probleme nicht bewältigen kann. Man muss sich also um den Menschen selbst kümmern. Und das ist eine Aufgabe, von der ich nicht weiß, ob unser Staat in der Lage ist, sie zu leisten. Denn das kostet natürlich Geld. Das braucht erheblichen Einsatz von Sozialarbeitern. Aber man muss davon wegkommen, dass obdachlose Menschen abgetan werden, indem man sagt: Die sind sowieso verloren, die sind der Abschaum. Wir müssen hinschauen, wir müssen sie wahrnehmen und überlegen, wie wir ihnen helfen können.
Zur Person
Andreas Düllick (55) hat Koreanistik an der Humboldt-Universität studiert. Seine erste berufliche Station war eine Auslandsredaktion einer Nachrichtenagentur. Danach war er Radio-Journalist und freier Fernsehproduzent. Nach einer beruflichen Auszeit hat er die ersten Artikel für den "Strassenfeger" geschrieben und ist in seinen heutigen Job hinein gewachsen. "Als Chefredakteur einer anderen Zeitung verdient man natürlich viel mehr Geld", sagt Düllick. "Man hat aber weniger Möglichkeiten. Wir können als Zeitung machen, was wir wollen. Das macht den Job so unheimlich aufregend."