Neue Produktion über einen Brief, der 100 Jahre unterwegs war Studiobühne: Hinter den Kulissen zu „Feldpost für Pauline“

Von Jana Winterhalter
Das Stück "Feldpost für Pauline" wird am Samstag in der Studiobühne uraufgeführt. Foto: red/Ronald Kropf Foto: red

Eine Ur-Ur-Großmutter, ihre Enkelin - und deren Enkelin. Und ein Feldpost-Brief aus dem Ersten Weltkrieg, der seine Empfängerin nie erreicht hat - und der jetzt doch noch in der Post liegt. Davon handelt der Roman "Feldpost für Pauline" von Maja Nielsen. Das Ensemble der Bayreuther Studiobühne holt den Roman jetzt auf die Bühne - ein spannender Prozess mit vielen Hindernissen.

 
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SONNTAG, 7. DEZEMBER, 18 UHR:

Im Saal der Studiobühne. Die Wände sind behängt mit dunkelgrauem Fließ, daran befestigt ein paar alte Zeitungen. In der Mitte zwei Holzrampen, links hinten eine Bahnhofslampe. Im Raum verstreut liegen alte Koffer, Kleidungsstücke, grellgrüne Hefte als Tagebücher, leere Pappkarten als Postkarten. Helles, kühles Licht der Zimmerlampe. Die Schauspieler in Alltagskleidung, noch ruhig und fröhlich scherzend.

Dann fangen sie an.

„Ach Pauly, das kann man nicht in zwei, drei Worten erzählen. Dafür braucht man Zeit.“, erklärt Großmutter Liese, gespielt von Gabriela Paule. Enkelin Pauly (Bettina Wagner) hat Zeit mitgebracht. Sie möchte die ganze Geschichte über ihre Ur-Ur-Großmutter Pauline und den Cellospieler Wilhelm erfahren, die sich vor hundert Jahren während dem Ersten Weltkrieg liebten. Wilhelms Feldpost hat Pauline nie erreicht. Jetzt kommt sie mit hundert Jahren Verspätung bei Pauly an. Wie viel Zeit braucht es, zwei Geschichten zu erzählen? Eine längst vergangene und eine gegenwärtige, die Paulys Leben gerade erst schreibt? Die Schauspieler der Studiobühne wollen das am 20. Dezember in 90 Minuten versuchen.

„Nehmen wir das mal als vorläufiges Ergebnis, als eine Version.“ Regisseurin Marieluise Müller kritzelt etwas in ihr Textbuch, das bereits die Notizen fünf früherer Versionen enthält. Eine endgültige Fassung wird zwar annähernd, aber nie unveränderlich festgelegt. Um eine gewisse Natürlichkeit im Sprechen beizubehalten, räumt Müller den Schauspielern bis zum Schluss eine Restfreiheit ein, Sätze aus dem Gefühl heraus hinzuzufügen oder abzuwandeln.

Seit Anfang November probt die Gruppe schon, jetzt sind es nur noch Tage bis zur Premiere. Der Text sitzt, das Bühnenbild steht beinahe, die Kostüme bekommen in der Schneiderei gerade ihre letzten Züge. Doch jetzt geht es um die Hauptsache, um all die Feinheiten, die ausschlaggebend für die Wirkung und den Erfolg der schlussendlichen Aufführung sind: die richtigen Tempi, fließende Übergänge zwischen den Szenen, um das Halten der Energie, um glaubwürdige Brüche. Gerade deshalb, weil Müller mit Assoziationen arbeitet, mit Impulsen, die mit eigenen Erinnerungen und Vorstellungen gefüllt werden müssen.

Großmutter Liese und Pauly suchen in dem alten Koffer der Ur-Ur-Großmutter Pauline (Bettina Wagner) nach der Vergangenheit. Immer und immer wieder muss die Szene wiederholt werden. Wie öffnet man den Koffer so, als wäre es das allererste Mal? Wie würde man eine alte, brüchige Postkarte anfassen? Und vor allem: Wie macht man aus einer dynamischen Frau eine zigarettenliebende Großmutter mit Rückenproblemen und geschwollenen Knien? Müller weiß Rat und legt ihr Knieschoner an, um sie mit dem Gefühl von schweren Knien vertraut zu machen.

Eine Szene im Krieg, 1916 in Verdun, der Soldat Wilhelm (Andreas Teodoru) stützt seinen völlig erschöpften Hauptmann (Jürgen Fickentscher): „Wo waren Sie, als es den Kleinen erwischte? Es ist wichtig, Hauptmann – Sie müssen sich erinnern.“ Der Hauptmann antwortet mit letzter Kraft:„Muss westlich der Anhöhe 37 gewesen sein.“ Laut Textbuch sollte Wilhelm sofort losrennen, doch er unterbricht die Szene: „Vorsicht Jürgen, ich lasse dich jetzt fallen.“ Heute kann er seinen Schauspielkollegen noch warnen. Bis zur Premiere muss jede Bewegung verinnerlicht und viele Male ausprobiert worden sein, um die Szene so realistisch wie möglich wirken zu lassen.

MONTAG, 8. DEZEMBER, 19 UHR:

Ein paar alte Zeitungen mehr hängen an der Wand. Zu den Requisiten kommen weiße Säcke hinzu. Das Licht ist gedimmt.

Heute ist öffentliche Probe, manche Schauspieler tragen schon Kostüme. Was die Zuschauer zu sehen bekommen ist noch keine zusammenhängende Geschichte, sondern einzelne Szenen, die lediglich eine Ahnung davon geben, was das ganze Stück einmal erzählen wird. Deshalb gibt die Regisseurin vorab ein paar Hintergrundsinformationen. Was hier entsteht, ist die theatrale Uraufführung eines Jugendromans von Maja Nielsen. „Er zeigt viele zeitliche Verschränkungen auf, das verlangt nach einer ganz bestimmten Theaterform“, erklärt Müller. Sie wählte dafür die Collagetechnik, alles ist angedeutet, nichts ausgeführt.

Das spiegelt sich auch in dem minimalistischen Bühnenbild wider, das zwar viele Möglichkeiten bietet, jedoch auch eine große Flexibilität im Spiel erfordert. Wie imaginiert man zum Beispiel einen fahrenden Zug, wenn dort nur eine hölzerne Rampe ist, die eben noch ein Haus darstellte? Und wie kann man innerhalb eines einzigen Bühnenbildes deutlich machen, dass die eine Szene im Ersten Weltkrieg und die nächste wieder in der Gegenwart spielt? Nicht nur das Bühnenbild muss durch das Schauspiel mit Bedeutung aufgeladen und gewandelt werden, vor allem auch die Figuren selbst. Vier Personen spielen zwölf Rollen. Das hat nichts mit begrenzten Kapazitäten zu tun, es ist Teil des Konzepts der Verschränkung, das sich durch die ganze Inszenierung zieht. Umso mehr kommt es auf differenziertes Schauspiel an, auf blitzschnelles Umdenken und Umfühlen. Ein anderer Dialekt, eine andere Stimmfarbe, ein anderer Gestus, die kleinste Veränderung schafft eine neue Figur.

Wieder die Szene zwischen Pauly und Liese am Koffer sitzend. Gerade hat Gabriela Paule sich in ein mühsames, beschwerliches Auftreten hineingefunden, da wird sie auf einmal zum Offizier. Pauly wird zu Pauline, die in die Tagebücher geschriebene Geschichte wird gegenwärtig. Gabriela Paule marschiert roboterartig, kommandiert, muss ihre großmütterliche Sanftheit ablegen und eine kalte, emotionslose Kriegssituation entstehen lassen. Sie lacht – der prompte Wechsel wirft sie aus der Rolle. Es ist ein schmaler Grad zwischen abstrakter, bedrohlicher Kriegsszene und Kasperletheater den die Schauspieler bewältigen müssen. Szenen wie diese müssen in der Gestik bis in die Fingerspitzen festgelegt sein, der kleinste Bruch verkehrt die Wirkung ins Gegenteil.

Ronald Kropf, der Bühnentechniker, begleitet heute erstmals die Proben. Er ist nicht nur für Lichteinstellungen verantwortlich, auch für Musikeinlagen, die auf das Wort getaktet sein müssen. Das Team probt unermüdlich, wiederholt kleinste Szenenausschnitte mehrmals und stößt immer wieder auf aufführungspraktische Probleme. Wo dürfen die Requisiten liegen, um keine Scheinwerfer zu verdecken? Wie laut darf die Musik sein? Was dem Zuschauer später als Selbstverständlichkeit nicht einmal auffällt, wurde in stundenlanger Arbeit hin- und hergewendet.

FREITAG, 12. DEZEMBER, 18 UHR:

Eine Wand ist fast komplett behängt mit alten Zeitungen. Die Tagebücher und Postkarten wirken endlich alt und brüchig. Die Säcke sind jetzt grau bemalt.

Noch sieben Tage bis zur Premiere. Zum ersten Mal wird ohne Unterbrechung eine dreiviertel Stunde durchgespielt. Erstmals stehen alle Kostüme und Requisiten zur Verfügung. Jetzt stellt sich heraus, ob all das, was separiert in den einzelnen Szenen seit Wochen geprobt wurde, auch im großen Ganzen funktionieren kann. Nicht die Szene, sondern das Szenengefüge, die Handlung als Ganzes, wird auf ihre Wirkung überprüft.

Oma Liese bleibt diesmal von Anfang an in ihrer beschwerlichen Gangart. Langsam setzt sie sich und liest die Karte, die Pauly aus Verdun zugestellt wurde. „Verdun, das war so sinnlos!“ Pauly versteht nicht: „Was war denn sinnlos?“ „Ach Pauly, das kann man nicht in zwei, drei Worten erklären.“ Und dann entsteht zum ersten Mal für 45 Minuten die Geschichte vom Krieg und denen, die ihn ertragen mussten. Von den Liebenden, den Wartenden, den Sterbenden und den Helfenden. Eine hundert Jahre alte Geschichte, die für Pauly plötzlich greifbar wird, als sie mit ihrem eigenen Leben in Berührung kommt. Auch sie liebt einen Jungen, Nick (Andreas Teodoru). Verbunden werden die beiden Liebesgeschichten durch die Musik. Wilhelm war ein begabter Cellospieler, so wie Pauly heute. Stück für Stück fügen sich Szenen aus beiden Welten sinnvoll zusammen. Dabei wird nicht nur die Handlung immer dramatischer, auch die Schauspieler fühlen sich mit jeder Szene tiefer in ihre Figuren ein.

Wilhelm kommt hereingestürmt und ruft nach seinem Kameraden Piccolo, den er im Kampf aus den Augen verloren hat: „Piccolo, Piccolo!“ Er klingt verzweifelt, und das nicht nur weil es die Rolle in diesem Moment verlangt. Sicher auch, weil Piccolo (Bettina Wagner) ihm nicht antwortet, wie im Textbuch vorgeschrieben. „Du kannst noch eine Weile nach mir rufen, ich bin noch lange nicht umgezogen“, klärt Bettina Wagner die Situation auf. Der Durchlauf wird abgebrochen. Was in der Theorie so klar durchdacht war, geht in der Praxis nicht auf. Auf wie viele Arten kann man ein Kleid knöpfen und welche Knopfart spart die meisten Sekunden? Eine banale Frage wird zum Hauptproblem der Schauspieler. Im Durchlauf sind Lücken entstanden, die es innerhalb der nächsten sieben Tage kreativ zu füllen gilt. Sätze und Gesten müssen solange dazu erfunden werden, bis alles zeitlich aufeinander passt. Kostüme müssen erneut geändert werden, um einen reibungslosen Ablauf zu ermöglichen.

Komplett ist eine Theateraufführung ohnehin erst bei der Aufführung. Denn Theater ist kein Theater ohne Publikum. Für Marieluise Müller erhält „Feldpost für Pauline“ erst am Premierentag seine Vollständigkeit: „Ich möchte lebendige, teilnehmende Zuschauer. Ich möchte, dass der Zuschauer sich wundert, hinterfragt, mitdenkt, dass er den letzten Teil der Geschichte selbst hinzufügt.“

INFO Uraufführung am kommenden Samstag um 20 Uhr im Saal. 
Weitere Vorstellungen sind am 28., 30. und 31. Dezember, am 8., 20. 
und 24. Januar sowie am 4., 8. und 14. Februar.