Zehn Jahre nach dem Unfall: Die Creußnerin Gisela Wirth-Baier weint noch immer jeden Tag um die Tochter Trauer um verunglückte Tochter

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Vor zehn Jahren verunglückte die Tochter von Gisela Wirth-Baier tödlich. Noch heute trauert sie jeden Tag um die Tochter. Foto: Münch Foto: red

Vor zehn Jahren verunglückte die Tochter von Gisela Wirth-Baier aus Creußen tödlich. Auch heute noch weint die Mutter jeden Tag um ihr Kind. "Ja, ich bin sauer auf Gott“, sagt sie.

 
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Es ist kein einfaches Gespräch, immer wieder kommen ihr die Tränen. Die Erinnerungen sind schlimm und sie trauert. 22 Jahre war Eva-Maria damals alt. Über ihr eigenes Alter möchte Wirth-Baier nicht reden, aber ihre Tochter, sie war einfach noch viel zu jung damals, ihr Leben doch noch vor sich. „Die Zeit heilt keine Wunden, sie macht es nur erträglicher“, sagt sie. Ihr Leben sei mittlerweile okay so. Aber akzeptieren, dass die Tochter nicht mehr da ist, kann sie nicht. „Es ist jetzt der Weg, den ich aushalten muss. Aber gut? Nein, gut ist nichts mehr“, sagt sie.

Wirth-Baier erinnert sich ganz genau an den Tag damals. Eva-Maria, die in Speichersdorf wohnte, wollte von Pegnitz kommend, wo sie als Krankenschwester arbeitete, bei ihr in Creußen vorbeikommen. Sie wollte ihr die Haare machen für das Theaterstück am Abend. Mutter und Tochter spielten beide in der VHS-Theatergruppe. „Dann habe ich gegen 15.30 Uhr ganz viel Martinshorn und den Rettungshubschrauber gehört. Ich dachte, ohjeh, da muss was passiert sein.“ Zwei Stunden später ruft dann Josef, der Freund ihrer Tochter an, Eva-Maria war mit seinem Auto unterwegs gewesen. Sie habe einen Unfall gehabt, auf der B 2, kurz hinter Schnabelwaid. Eva-Maria war aus bis heute ungeklärter Ursache auf die Gegenfahrbahn geraten und mit einem entgegenkommenden Auto zusammengestoßen. Genaues wusste er auch nicht, nur dass es etwas Größeres ist. „Ich bin dann gleich hingefahren, die Rettungskräfte wollten mich erst nicht hinlassen. Das Auto hat schlimm ausgesehen“, hat Wirth-Baier das Bild noch vor Augen. Eva-Maria war aber schon nach Erlangen in die Klinik geflogen worden. Ihre Schwester fährt sie dort hin, sie selber steht unter Schock. Man sagt ihr, dass die Tochter lebt, schon dreimal operiert und auch reanimiert wurde. Die Ärzte wollen sie nicht zu ihr lassen, sie soll wieder heimfahren, jederzeit anrufen und am nächsten Tag wiederkommen. „Ich weiß bis heute nicht, warum ich nicht dageblieben bin“, macht sich Wirth-Baier immer noch Vorwürfe.

Am nächsten Morgen kommt um 6 Uhr der Anruf von der Klinik. Den Satz wird sie nie vergessen. „Wir können nichts mehr für ihre Tochter tun.“ Ein Freund fährt sie dann hin, sie darf zu Eva-Maria, die, an viele Geräte angeschlossen, im Bett liegt. Fünf Stunden sitzt sie da, betet verzweifelt und sieht doch, dass es langsam zu Ende geht. Multiples Organversagen, die inneren Verletzungen waren zu schwer: Leber- und Milzriss, Lungenruptur, immenser Blutverlust. Die Kopfverletzungen wurden noch gar nicht behandelt. Und auf einmal war es vorbei. Wie war der Moment des Todes? „Eine große Leere. Man hat so gehofft und gebetet und dann ist es doch aus. Das ist so bitter, so enttäuschend.“ Wirth-Baier kann nicht mehr in die Kirche gehen, sie hadert mit ihrem Gott. Er ist nicht da, wenn man ihn braucht. „Sie hat ausgesehen, als ob sie schläft und auf einmal war sie kalt. Das war wie ein Schock“, sagt Wirth-Baier unter Tränen. Schlimm war dann, als sie gehen musste, die Tochter für immer verlassen musste. Das war schrecklich.

Die nächsten Tage habe sie nur funktioniert, sei alles automatisch gelaufen: Bestatter, Sarg und Grab aussuchen, Beerdigung planen. Und da waren zornige Momente, in denen sie Dinge die Treppe hinuntergeschmissen hat. „Wenn ich in dem Moment eine Pistole gehabt hätte, hätte ich abgedrückt, Kurzschlusshandlung“, ist sie sich sicher. Auch von der Beerdigung am Mittwoch weiß sie noch jedes Detail. Viele waren da, Freunde von den Kirwaleuten, den Motorrad- und Reiterfreunden. Ein Trost ist die große Anteilnahme für die Mutter trotzdem nicht, als sie danach heimkommt, ist das wie ein Schlag, es ist niemand da. Von ihrem Mann lebt sie schon lange getrennt, Eva-Marias Zwillingsbruder Daniel will nicht mit ihr drüber reden, er verdrängt alles.

Die nächsten Tage verbringt Wirth-Baier im Bett, die Rollos sind unten, sie will niemanden sehen, duscht nicht, trinkt Alkohol, weint. Doch nach dem Wochenende steht sie dann auf und sperrt ihren Laden – ein Bastelgeschäft – wieder auf. „Ich musste weitermachen“, sagt sie, „was sollte ich sonst tun, das Leben geht weiter.“ Aber der Verlust und die Trauer sind täglich da. Schlimm war es auch, die Wohnung der Tochter in Speichersdorf aufzulösen, ihre Sachen auszuräumen. Es war ja alles so da, wie es Eva-Maria verlassen hatte.

Einmal geht sie zur Psychologin, aber mit der kommt sie nicht zurecht. Wirth-Baier arbeitet: Das Geschäft, sie gibt VHS-Kurse, geht auf Märkte und Ausstellungen, ist viel unterwegs. Sie therapiert sich selber mit Arbeit, bis heute. „Ich arbeite, damit ich nicht ständig dran denke.“ Und sie malt. Eva-Bilder, wie sie sagt. Im ersten Moment merkt sie es gar nicht. Sie malt Engel, immer wieder und dann sieht sie, dass sie ihre Tochter malt, unbewusst.

Freunde versuchen sie aufzumuntern, wollen sie rausholen, aber das will sie nicht, sie will allein sein. „Ich mach das mit mir selber aus“, sagt sie resolut. Wirth-Baier ist eine starke Frau. Aber sie kann nicht lange wo sein, muss wieder heim, die Wohnung ist ihr Schutz. „Eva-Maria war wie eine Schwester für mich, sie war die Partnerin, mit der ich über alles reden konnte. Wir waren uns so ähnlich. Lebhaft und temperamentvoll.“ Und die Mutter war so stolz auf die Tochter, dass sie beim Theaterspielen in ihre Fußstapfen trat. Die ersten Jahre nach Eva-Marias Tod kann sie aber nicht auf die Bühne. Dann plant die Theatertruppe einen Otto-Reutter-Abend mit spirituell angehauchten Texten, in denen es auch um Leben und Tod geht. Das kann sich Wirth-Baier vorstellen, seit dem ist sie wieder dabei. Beim Spielen kann sie die Trauer ausschalten, von einem Moment zum anderen umschwenken, der Clown sein. Das ist nur eine Rolle. Ein Freund zwingt sie quasi, bei einer Jazzband den Gesangspart zu übernehmen. Sie macht das. Und es hilft ihr etwas, auch wenn sie jedes Mal Lampenfieber hat anfangs.

Neulich sagte jemand zu ihr: „Ich glaube sie haben das Schlimmste überstanden.“ Das stimmt nicht. „Man lernt nur damit umzugehen und zu leben“, sagt Wirth-Baier. Aber manchmal genügt nur eine Kleinigkeit, um sie aus der Fassung zu bringen. Heilen wird es nie, sie kommt sich so betrogen vor um das Dasein ihres Kindes. „Ich vermisse Eva-Maria so sehr“, sagt sie weinend. Am Anfang ist sie täglich zum Grab gegangen, es ist ihr schwergefallen. Heute geht sie, wenn ihr danach ist. Wenn sie Blumen pflanzt, möchte sie am liebsten wieder ausgraben. In ihrer Wohnung stehen Fotos von Eva-Maria, aber keine Kinderbilder. Das kann sie nicht. Wenn andere sagen, man soll dankbar sein für die Erinnerungen, versteht Wirth-Baier das nicht. „Erinnerungen? Pfeifendeckel, sie ist nicht mehr da!“

Sie lebt jetzt so, wie es ist. Doch, inzwischen kann sie auch wieder lachen mal, das geht schon. Aber was Großes kommt da nicht mehr, sagt sie. Am Anfang war es sehr schwer, aber das müsse man ablegen. Und zum richtigen Glücklichsein fehlt einfach was. Mit dem anderen Unfallfahrer – er wurde damals schwer verletzt, hat sie noch Kontakt. Und auch mit Josef. Er und Eva-Maria waren damals erst ein halbes Jahr zusammen, aber es war die große Liebe. Er hatte danach nur kurz mal eine Freundin. „Aber das war halt nicht Eva-Maria“, sagt Wirth-Baier.

„Man muss sich zum Leben zwingen, sonst ist es einfach scheiße“, sagt sie, „man muss es begreifen und sich selbst rausziehen.“ Stolz ist sie, dass sie keine Medikamente braucht, um es auszuhalten. Und sie regt manches nicht mehr so auf. „Das Leben ist nicht planbar“, sagt Wirth-Baier. Ein halbes Jahr vor Eva-Marias Tod war ihre Mutter gestorben. Aber sie war alt, hatte ihr Leben gehabt, die Tochter war noch so jung. „Das ist so unfair“, sagt sie. Und ja, man wird verbittert und härter. Auch auf andere Beerdigungen kann sie nicht mehr gehen. Und sie hat die Hoffnung, dass da nach dem Leben noch etwas ist, außerhalb dieser Welt. „Ich hoffe, dass ich Eva-Maria wiedersehen werde“, sagt sie. Daran klammert sie sich.

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