Vom Gestern ins Heute: der entzauberte Holländer Tod eines Handlungsreisenden

Florian Zinnecker

Was heißt da Einspringer? Samuel Youn landet als Holländer zum Auftakt der 101. Festspiele erfolgreich in Bayreuth, Christian Thielemann inszeniert eindrucksvoll Wagners Musik. Und Regisseur Jan Philipp Gloger hat noch Luft nach oben. 

 
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Als sich Senta und der Holländer im zweiten Aufzug endlich gegenüberstehen, spielt Geld keine Rolle mehr. Die Welt, die sich um das Paar erhebt, hat mit der abgezirkelten Wirklichkeit, die sie vorher umgeben hat, nichts mehr zu tun. Auch ästhetisch nicht.

Die neue, andere Welt ist selbst gebastelt – und sieht auch so aus. Der Holländer schnallt Senta Flügel aus Karton auf den Rücken, aus dem Schnürboden kommen Sterne heruntergefahren, krumm und schief geschnitten; auf dem Boden stehen, zwischen lodernden Flammen, ausgeschnittene Tulpen – alles aus Pappe, alles selbst gebastelt, und alles, alles dreht sich. Senta und der Holländer träumen sich in ihre Kindheit zurück, den einzigen Ort, in dem Gefühle und Fantasie nicht sofort verschlungen werden von der Möglichkeit, Geld damit zu verdienen.

Dies ist die zentrale Szene in Jan Philipp Glogers Neuinszenierung des „Fliegenden Holländers“, mit dem am Mittwoch die 101. Bayreuther Festspiele begonnen haben. Es ist eine kluge Inszenierung, mit Witz und guten Ideen, genug Unschärfe, um sich einen eigenen Reim auf das zu machen, was auf der Bühne passiert. Aber sie hat auch ein Problem – ein nicht gerade kleines: Sie lässt kalt. Sie berührt nicht, bewegt nicht. Sie holt den „Fliegenden Holländer“ aus dem Gestern ins Heute – und sie entzaubert ihn dadurch fast völlig. Es ist alles da in dieser Inszenierung, Klugheit, Witz und Personenführung. Aber es fehlt doch zu viel.

Erste Geamtproduktion

Das alles ist vor allem deshalb so wichtig, weil es an diesem Abend ja nicht nur um den Abend selbst geht. Genau hier und heute entscheidet sich, wie es den Bayreuther Festspielen wirklich geht. Es geht dabei ja nicht um Kommunikation, Marketing und Interviews im „Spiegel“ und anderswo. Es geht um die Kunst, um Musiktheater, um das Handwerk. Dieser „Fliegende Holländer“ ist die erste Produktion, die – von vorne bis hinten – Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier verantworten: die Wahl des Regieteams, die Besetzung, die musikalische Leitung, die Rahmenbedingungen der Arbeit. Von der Musik wird noch die Rede sein, was die Deutung Glogers betrifft, ist – bei allem Bemühen – noch Luft nach oben.

Es sollte um Kapitalismus gehen bei diesem „Fliegenden Holländer“, das war schon durchgesickert. Um Rastlosigkeit, Überforderung, Überlastung auch – aber dass der „Holländer“ davon handelt, ist seit der Uraufführung kein Geheimnis mehr. Was die Deutung Glogers betrifft, waren die entscheidenden Details bis zuletzt im Dunkeln geblieben – die große Geheimnismaschine auf dem Grünen Hügel funktioniert, wenn sie soll, immer noch.

Im Großen und Ganzen ist „Der fliegende Holländer“ eine Geschichte von Sehnsüchten, Hoffnungen und Träumen – davon, was passiert, wenn diese Hoffnungen aufeinandertreffen, wenn sie scheitern oder, bisweilen noch schlimmer, sich erfüllen. Es ist ein Stück, in dem sich immer alles um die Zukunft dreht – und das deshalb keine Gegenwart kennt. Eine Zukunft aber gibt es auch nicht – weil die mit den größten Sehnsüchten, Senta und der Holländer, am Ende zugrunde gehen. Dass gestorben werden muss, erschließt sich aus der Szenerie aber nicht unbedingt. Und das ist in diesem Moment nur einem nicht anzulasten: dem Komponisten.

Gegenwartsbezogen

Umso gegenwartsbezogener ist die Deutung Glogers. Er lässt die Geschichte in einer Ventilatorenfabrik stattfinden – wo, wie das Bühnenbild Christoph Hetzers vermuten lässt, die digitale auf die analoge Welt trifft, Handarbeit auf Elektronik, und immer, das ist der Kern der Deutung wie des Werks, Mobilität auf Sesshaftigkeit. Und so ist Daland (fabelhaft: Franz-Josef Selig) nicht Kapitän, sondern Vorstandsvorsitzender einer Ventilatorenfabrik, sein Steuermann (wohlklingend: Benjamin Bruns) führt eine Kompanie an Außenhandelsvertretern – die Mädchen in der Spinnstube sind angestellt in der Verpackungsabteilung, geleitet von Abteilungsleiterin Mary (Christa Mayer). Erik (Michael König) ist nicht Jäger, sondern Hausmeister – nur Senta ist Senta (die Idealbesetzung: Adrianne Pieczonka).

Die Geschichte des verfluchten Seemanns, der bis zum Jüngsten Tag auf dem Ozean umhersegeln muss und nur von der treuen Liebe einer Frau erlöst werden kann, die zu suchen er aber nur alle sieben Jahre Gelegenheit hat – diese Geschichte erzählt Gloger also, indem er sie umdreht: Sein Holländer ist Handlungsreisender, mit Rollkoffer als ewigem Gefährten – und es ist kein Zauber, der ihn zur Rastlosigkeit zwingt, sondern sein Beruf. Und der Fluch, das ist die Leere drum herum, die ihn ausbrennen lässt, und die er – hier schließt sich der Kreis – nur mit der Liebe einer Frau überwinden kann.

Samuel Youn ist, bekanntermaßen, für Evgeny Nikitin eingesprungen – was seine Leistung noch ansehnlicher werden lässt, als sie – Nikitin hin oder her – ohnehin ist. Festzuhalten bleibt: Ausnahmslos alle Hauptpartien sind glänzend besetzt. Wie üblich in der heimlichen Hauptrolle: der Festspielchor unter Eberhard Friedrich.

Und dies ist der Moment, in dem die Sprache auf Christian Thielemann kommen muss. Was Gloger auf der Bühne nicht gelingt – Thielemann gelingt es im Graben. Es ist nicht sehr übertrieben zu sagen: Christian Thielemann dirigiert nicht, er inszeniert die Musik. Vor allem den Holzbläsern gibt er Raum zum Aufblühen, und selbst dann, wenn es stürmisch zugeht im Orchester, verschwimmen die Töne nicht.

Von Anfang an klar

Musikalisch betrachtet ist es ohnehin fast von Anfang an klar, wie die Geschichte ausgehen würde. Genauer: von Takt 65 der Ouvertüre an: Der erste große Sturm im Orchester ist abgeflaut, die Holzbläser setzen ein, Englischhorn, Hörner und Fagott, gleich darauf Klarinette, Oboe und Flöte, spielen das Erlösungsmotiv. Es sind nur ein paar Töne. Aber sie klingen bei Thielemann so voll und so sehnsüchtig seufzend, dass das Ende kein gutes mehr sein kann.