Bayreuths berühmtester Patient holt zum Rundumschlag aus: „Jeder kann Opfer werden" Psychiatrie: Mollath sieht Rot

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Gustl Mollath: Die Menschen hängen an ihm Foto: Lapp Foto: red

Die Marke, die Gustl Mollath geschaffen hat, heißt Gustl Mollath. Der rote Parka, in dem Bayreuths berühmtester Psychiatrie-Patient bekannt wurde, seine getragene Art vor Publikum in jener hypnotischen Steifheit zu sprechen, die Widerspruch von vornherein unanständig macht. Und seine simple Botschaft: „Jeder kann Opfer des psychiatrischen Systems werden." Mollath, inzwischen 57, zelebriert seine persönliche Betroffenheit wie einen Markenkern, so wie am Montag im Literaturhaus München bei einer Podiumsdiskussion. Das Thema „Staatsversagen auf höchster Ebene. Was sich nach dem Fall Mollath ändern muss".

 
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Mollath ist ein guter Verkäufer, der sich nicht lange mit Details aufhält. Sein Verkaufsschlager sind Allgemeinplätze: In der Psychiatrie seien „die Mitpatienten oftmals oder fast immer das geringste Übel", das größere Problem seien „die qualifizierten Mitarbeiter, die Ärzte, die Psychologen, die Sozialarbeiter, die Sicherheitsdienstmitarbeiter, die häufig aufgepumpte Muskelmänner" seien. Er hat „Mitgefangene" im Angebot, die „in ihrer Zelle die Fliesen durchgelaufen" haben, weil sie unter Medikamenten standen.

Er räumt zwar „auch tatsächliche Erfolge" ein, aber: „Im Großen und Ganzen ist eine Scharlatanerie möglich. Es gibt keine Kontrolle, und schon gar keine Konsequenzen. Es ist sonnenklar, dass sich ein Unrechtssystem entwickeln kann." Verhaltener Beifall im Saal. Die Leute, von denen viele ein ähnliches Schicksal wie er teilen, kaufen es ihm ab.

Um Details mögen sich dann andere kümmern. Und dass sich etwas ändern muss, darin waren sich alle Teilnehmer einig: Mollaths Anwalt Gerhard Strate, der Rechtswissenschaftler Henning Ernst Müller und noch Noch-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) kritisieren den Unterbringungsparagrafen 63, der Straftäter in geschlossene Anstalten bringt, wenn sie für bedingt oder für völlig schuldunfähig gelten.

„Die Anforderungen müssen strenger werden",  sagte Leutheusser-Schnarrenberger, sowohl wenn es um die Prognose von Gefährlichkeit als auch um Kontrolle geht. Außerdem sollten nur Menschen untergebracht werden, die „schwere Straftaten" begangen hätten. Neue Gesetze brauche es dafür nicht: „Wenn alles so dezidiert angewandt würde, wie es das Bundesverfassungsgericht vorgeschrieben hat, dann gäbe es keinen allzu großen Handlungsbedarf." So sieht es der Rechtswissenschaftler Müller, so sieht es auch Mollaths Anwalt Strate: „Eigentlich bräuchte man keine Reform, die Justiz müsste sich nur an das halten, was sie sich vorgegeben hat." Aber wenn Angeklagte vor Gericht aufträten, „die ein bestimmtes Krankheitsbild" hätten, werde nicht mehr nachgefragt. „Ich kenn meine Pappenheimer." Strate meint die Richter.

Auch Mollath meint die Richter, vor allem einen. Otto Brixner, der ihn 2006 in die Geschlossene geschickt hat. Der habe „unbeobachtet in der Öffentlichkeit ohne Problem sein Unwesen" getrieben. „Macht braucht Kontrolle", sagt Verkäufer Mollath und erntet wieder Beifall. Fast eine Dreiviertelstunde nach der Veranstaltung beantwortet er Fragen und schüttelt Hände. „Es ist viel zu tun", sagt er. Den Journalisten, die nicht nur das Skandalöse seines Falles sehen wollen, hält er noch einen Vortrag. Darüber, dass sie tief gefallen seien, dass sie der Menschheit geschadet hätten, den Kindern. Den Kindern? Ja, und den Männern und den Frauen und dem ganzen Land. Alles, was er sage, sei doch bewiesen. Wieder der Tonfall, bei dem Widerspruch etwas Unanständiges hat. Die Umstehenden saugen auf, was er sagt. Am Kragen seiner roten Jacke hängt ein Sticker: Jesus loves you – Jesus liebt dich.

Der Redebeitrag von Gustl Mollath im Wortlaut:

"Jeder kann Opfer des psychiatrischen Systems werden. Es betrifft nicht nur mich als Person, ich bin kein Einzelfall, was ich erlebt habe. Was beweisbar ist in meiner Sache, kommt in diesem Gesamtmaß nicht häufig vor. Es ist gang und gäbe nicht nur in Bayern, sondern auch in Deutschland. Unter Umständen kann jeder von uns psychiatrisiert werden. Das ist nicht ausgeschlossen. Sie können nur hoffen, dass die Wahrscheinlichkeit nicht hoch ist.

Selbst vor Kindern schreckt das psychiatrische System nicht zurück. Es gibt ein Produkt Ritalin. Kinder im Kindergartenalter werden mit Psychopharmaka traktiert. Zu häufig werden Medikamente gegeben. Es ist ein Desaster, was uns allen bevorsteht. Die Bibel kommt aus den USA, das neue Standardwerk, das nennt sich „DSM 5", darauf baut die Weltgesundheitsorganisation auf mit ihren ICD-Vorschriften für „angebliche" psychische Krankheiten.

Sie sind Mütter, Väter. Sie haben Kinder. Sie haben Menschen, die Sie lieben. Wenn Sie dann länger als 14 Tage um einen verstorbenen Menschen trauen, dann ist das unter Umständen Ausdruck einer psychischen Krankheit, die behandelt werden muss. So ist es formuliert in diesem weltweiten Manual, das über uns gekommen ist. Darauf baut die weltweite Psychiatrie-Branche auf. Jedes Verhalten ist danach als Krankheit auslegbar und behandelbar.

[...] Ich möchte eine Sensibilisierung erreichen, dass Menschen hinter die Kulissen blicken, was hinter den Kulissen möglich ist. Dass sie in die rechtsfreien Räume blicken.

Es werden auch tatsächliche Erfolge erzielt. Im Großen und Ganzen ist eine Scharlatanerie möglich. Es gibt keine Kontrolle, und schon gar keine Konsequenzen. Es ist sonnenklar, dass sich ein Unrechtssystem entwickeln kann. Der Unterschied zwischen normaler Psychiatrie und forensischer Psychiatrie ist nur ein Urteil und eine Straftat.

Ich war noch nicht verurteilt, da saß ich schon gefangen in der Psychiatrie unter U-Haft-Bedingungen. Das wünsch ich niemanden. Da [...] ist mir ein Blatt Papier und ein Bleistift verweigert worden. Erst Jahre später hab ich erfahren, dass ich einen Rechtsanspruch habe. In Deutschland gibt es das Recht, mindestens einmal am Tag eine Stunde unter freiem Himmel mich bewegen zu dürfen. Auch das musste ich mir hier und da erkämpfen. Das ist nur ein kleiner Hinweis, der schon schlimm genug ist.

Menschen, wo die Mitpatienten und Mitpatientinnen oftmals oder fast immer das geringste Übel darstellen. Wo die qualifizierten Mitarbeiter, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, die Sicherheitsdienstmitarbeiter, die häufig aufgepumpte Muskelmänner sind, die sind das viel größere Problem.

Sie haben kein generell übliches Verhalten. Das Interessante war, dass ich mit pädophilen Mitpatienten diesen Groll, wie ich ihn erlebt habe, nicht erleben musste. Das Böse pflegt das Böse. Ich hab immer versucht, eine Wahrheit zu ergründen, nicht irgendwelchen Vorurteilen aufzusitzen. Es gibt eine DVD, den deutschen Heinrich Himmler, den Chef der SS. Seine Nachfahrin, Katrin Himmler, Sozialwissenschaftlerin, da haben sich Wissenschaftler Gedanken gemacht. Wie ist es möglich, dass Menschen außergewöhnliche Gräueltaten begehen, obwohl sie in ihrem normalen Leben liebevolle Väter, Mütter etc. sind. Himmler hat festgestellt, dass ein ordentlicher braver Mensch im Normalleben im KZ zum regelrechten Monster fähig ist. Das geht einfach. Man muss die Opfer entmenschlichen. Die Klassifizierung „Patient" reicht schon aus. Dann hab ich diese Dinge nicht dem Menschen angetan.

Es müssten sich viel mehr Menschen mit den Um- und Zuständen in unserem Land befassen, die unbekannt sind. Unerträglich, dass es solche Räume in unserem Land gibt. Aufgrund der Geschichte unseres Landes gibt es keinerlei Ausreden, dass es so etwas gibt. Kein Land dürfte sich das leisten. Deutschland schon mal gar nicht.

Die Umstände, die handelnden Personen sind leicht erkennbar, dass sie letztendlich grottenschlecht sind. Ich bin von den Socken, was da in Deutschland möglich ist. Ein ordentlicher Richter mit entsprechender Menschenkenntnis wäre ausreichend. Sie wissen ja gar nicht, was im Namen der Gutachter in diesem Land möglich ist.

Mitgefangene, die in ihrer Zelle die Fließen durchgelaufen sind, weil sie nach Psychopharmaka den Drang zu laufen hatten. Was ich erlebt habe, sind folterähnliche Umstände. Die geschehen auch, wo die Unschuldsvermutung gelten musste – in der U-Haft-Situation. Die schlimmste Aburteilung in Deutschland ist Freispruch und Paragraf 63 (21 und 21). Das kann bedeuten, dass sie bis zum Lebensende ausgeliefert sind der Beurteilung von Ärzten und ihrem Personal. Das hilft ihnen nichts mehr. Widerworte, Bitte um Rechtsbeistand: Dann sind Sie Staatsfeind Nummer eins.

Man hat mir gesagt: Wer schreibt, der bleibt. Diese Mitarbeiter haben nicht den Glauben, die haben das Wissen: „Wir werden geschützt." Wir haben einen Rechtsstaat nach Gutsherrenart. Das ist nicht immer so, sonst würde das nicht funktionieren.

Ja gut, ich wünsch mir ein ordentliches, rechtsstaatliches Verfahren, wo die Wahrheit gesucht wird. Aber aufgrund der nachweisbaren Vorkommnisse in der Vergangenheit in meinem Fall, wie sich die Institutionen in meinem Fall verhalten haben, muss ich damit rechnen, dass kein Interesse besteht, die Wahrheit zu finden.

Da sind so viele Leichen, die da unbekannt sind, die bekannt würden, wie z.B. die Schwarzgeldverschiebung, die sich nur auf fünf kleine Mitarbeiter der Bank beschränkt.

Bei Journalisten, wenn es darum geht, sich mit Banken zu befassen, dann stell ich einen merkwürdigen vorauseilenden Gehorsam fest. Angsterfüllte Gesichter. Was ist denn in diesem Land los?

Kritisch arbeiten wäre wünschenswert, noch dazu bei den Damen und Herren, die wirklich Einfluss haben, die die Oberhoheit [...] über Justizbeamten haben. In meinem Zusammenhang, den ich erleiden musste im Justizpalast Nürnberg. Da durfte jahrzehntelang ein Herr Otto Brixner unbeobachtet in der Öffentlichkeit ohne Problem sein Unwesen treiben. Auch in meinem Fall stell ich hier die Frage: Warum muss es so sein, dass Protokollierungspflichten vor deutschen Gerichten so lasch sind? Die Protokollierungspflichten vor Amtsgerichten in niedriger Instanz sind höher als in der höheren Instanz. Deshalb konnte Otto Brixner sein ganzes Berufsleben sein Unwesen treiben.

Wenn ich mein eigenes Verfahrensprotokoll lese, habe ich das Gefühl, ich war in einer anderen Verhandlung. Ohne mit der Wimper zu zucken konnte Otto Brixner das Protokoll darstellen, dass ich so gut wie keine Chance hatte.

Ich will nicht so weit gehen, dass wir in diesem Bereich amerikanische Zustände haben, wir müssen das nicht den Bürgern täglich ins Wohnzimmer einspielen. Aber schlecht wär's nicht.

Sie sind extrem getroffen. Sie als das Volk, in dessen Namen das Urteil getroffen wurde. Der Paragraf 63 unterteilt sich in 21: bedingt schuldfähig und wie in meinem Fall absolut falsch verhängt und voll schuldunfähig. Ich betone nochmal, das ist die mögliche Höchststrafe in der Bundesrepublik Deutschland.

Ein ganz entscheidender Punkt, ich musste feststellen über die Jahre der Unterbringung, ich krieg keine Wahlkarte mehr. Ich hab versucht rauszukriegen, was da los ist. Unsäglich: Durch den über mich verhängten 63 hatte ich nicht einmal mehr ein aktives oder passives Wahlrecht. Mir hatte das niemand gesagt. Ich kann mich noch gut erinnern, vor wenigen Jahren, als ich noch nicht 18 war, wie ich hin gefiebert habe zu wählen. Es ist eine Grundverpflichtung zu wählen. Wenn man in einer Demokratie leben will, dann empfinde ich es als Verpflichtung, das Wahlrecht zu nutzen. Das hab ich auch immer getan. Plötzlich durfte ich nicht mal mehr das. Das war ein Stich ins Herz. Wo ist der Sinn, dass ein mit dem Kainsmal 63,20 Gebeutelter nicht einmal mehr wählen darf? Das hatten sich damals die Nazis ausgedacht. Warum führt man das bis heute fort?

Wir haben ein Wahlverhalten von Bürgerinnen und Bürgern, da kann man sich an den Kopf fassen und fragen, ob die spinnen.

Die meisten Untergebrachten, die ich erlebt habe, haben meistens noch nicht gewählt und wollten es nicht. Warum soll ein Ballaballa-Mensch wählen? Wenn er was anstellt mit dem Wahlzettel und dem Bleistift. Aber so mir nichts dir nichts Menschen in jeder Form ausgrenzen, aus dem Leben drängen, auch noch zu beschneiden, dass man als demokratischer Mensch Einfluss nehmen kann, das ist das Allerletzte. Wenn ich mich daran erinnere, dann fange ich das Zittern an.

In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen etwas schenken (Mollath wendet sich an Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger). Als ich eine günstige Übernachtung  nutzen durfte, im Kloster Plankstetten. Da gab es eine Ausstellung zur Weißen Rose, die Sophie Scholl wurde nicht weit weg von hier enthauptet. Da lagen die Flugblätter, die die Weiße Rose druckte. Viele Sätze sind in Deutschland topaktuell. Ich glaub, es ist nicht uninteressant."

Anmerkung der Redaktion: Das Protokoll wurde nach Gehör geschrieben; unverständliche Passagen sind durch Auslassungen [...] gekennzeichnet.

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