Die Musik: nicht nur richtig, sondern am richtigsten
Christian Thielemann hat seinen bisherigen Blickwinkel auf die Partitur, die ja als Wagners, dichteste und anstrengendste gilt, komplett in Frage gestellt. Alles zurück auf Anfang, zurück zu den Noten. Schon in den ersten Takten hört man den Willen heraus, hier heute nichts zu überziehen und zu überspannen, aber sich mit nichts weniger als einer deutlich lesbaren eigenen Handschrift zufrieden zu geben.
Wenn das Vorspiel Fahrt aufnimmt, beschleunigt er das Orchester bis an die Grenze einer fast schon ungehörigen Geschwindigkeit, „Belebend“, steht in den Noten, und das wird hier heute eben ernst genommen. „Tristan und Isolde“ ist in Noten gegossene Sehnsucht, die Musik ist eine Gleichung mit einer Unzahl an Unbekannten, die erst ganz am Ende aufgeht.
Nach dem ersten Ausbruch tropfen Bläser und Streicher kurz scheinbar unkontrolliert ineinander, auch im zweiten Aufzug gibt es so eine Stelle, bei der - nach extremer Beschleunigung - kurz alles ineinanderfließt.
Dazwischen ist alles bis in die feinsten Verästelungen ausgearbeitet und balanciert, die Klangfarben sind minutiös gemischt, jede Zäsur wird ausgekostet. Die Stille vor dem letzten Ton muss die Oboe mit einem letzten Sehnsuchtston durchschneiden, Thielemann dehnt den Moment zu einer kleinen Ewigkeit. Sein Bayreuther „Tristan“ soll nicht nur richtig, sondern am richtigsten musiziert sein, das hört man, und man hört auch, dass ihm genau das eben auch gelingt. Und zwar, paradoxerweise: vor allem durch Zurückhaltung.
An traditionell lauten Stellen hält Thielemann das Orchester klein, er lässt seine Zuhörer ungeschützt ins Piano fallen, überhaupt ist sein „Tristan“ eher leiser als laut. Gut möglich, dass es diese Extravaganzen sind, die ihm die Buhs einbringen, sie sind es aber auch, die die Musik direkt und ungefiltert in die Herzkammer fließen lassen. Nichts anderes haben die Leute erwartet, Thielemann brachte es fertig, die Erwartung haargenau zu erfüllen.
Die Inszenierung: ungewöhnlich aber gelungen
Auch Katharina Wagner stellt Blickwinkel in Frage, allerdings mit deutlich mehr Mutwillen: Sie und ihr Dramaturg Daniel Weber haben beinahe jeden Aspekt der Handlung in die entgegengesetzte Richtung gedreht. Die ausweglose Liebe zwischen Tristan und Isolde bleibt erhalten. Aber sonst: der Liebestrank wird ungetrunken verschüttet, es kommt schon vor dem ersten Wort zum ersten Kuss. König Marke ist ein kaltherziger Despot, der Tristan und Isolde in den Folterkeller wirft, wo sie - wissentlich - permanent beobachtet sind. Am Ende lässt Marke die ihm versprochene Isolde den toten Tristan kurz beweinen, bevor er sie - zu sich - wegführt.
Die Pfeiler, auf denen das Drama steht, reißt Katharina Wagner ein. Und stabilisiert die Handlung, indem sie Spott und Ironie als neue Farben in das Stück bringt - und damit auch Textzeilen in ihrer Bedeutung umkehrt. Das funktioniert erstaunlich gut.
Was sie erzählt, ist auch die Geschichte einer verunmöglichten Liebe. Die Hindernisse heißen aber nicht Sitte, Treue und politische Moral, sondern Heimtücke und Hass; ihr „Tristan“ ist eine Lektion in Kälte und Menschenverachtung. Ein Ansatz, der eine enorm große Zahl an weiteren Ideen braucht, damit am Ende kein ungelöster Rest stehen bleibt - und so ganz ist immer noch nicht klar, warum zum Beispiel ein Zaubertrank überhaupt vorkommt, außer eben, weil er im Libretto steht, und warum er zwar verschüttet, aber im dritten Aufzug trotzdem ausführlich verflucht wird. Katharina Wagner mag dafür Gründe gefunden haben, die Frage ist nur, ob man sich dafür interessiert.
In anderen Worten: Es gibt schlichtweg keinen ersichtlichen Grund, warum man „Tristan“ so erzählen muss, wie es hier versucht wird - außer, dass es, wenn man will, auch so geht. Zwar fehlt den Ideen ein wenig der Resonanzraum. Aber man kommt damit durch den Abend, das ist zwar nicht genug, aber es reicht.
Das Bühnenbild: eine große Beeindruckungsmaschinerie
Und Katharina Wagners Regiekonzept ginge wohl auch nicht restlos auf, kämen ihr nicht Frank Philipp Schlößmann und Matthias Lippert mit der gesamten Bühnenmaschinerie des Festspielhauses zu Hilfe (für die Kostüme zeichnete Thomas Kaiser verantwortlich).
Schlößmann und Lippert bauen drei albtraumhafte Welten auf die Bühne. Im ersten Aufzug ein Treppenhaus-Labyrinth, in dem sich Wege ständig neu formen und immer wieder abreißen, für ein ewiges Auf, Ab und Aneinander vorbei. Ein Bild, das eine beinahe geniale Übersetzung der „Tristan“-Musik ist – und auch des „Tristan“-Grundproblems, dass die Figuren für einander – körperlich wie geistig – unerreichbar werden.
Im zweiten Aufzug folgt ein Kerker – mit Sprossen an den Wänden, die beim Berühren abbrechen, und einem eher unmotivierten Folterkäfig in der Bühnenmitte. Albtraum-Ästhetik, bedrückend und lebensfeindlich. Im dritten Aufzug erscheinen Tristan gleich dutzendfach Isolden, in schwebenden Dreiecken, und zerplatzen, versinken, stürzen ab oder entleiben sich selbst.
Gewaltiger Theaterzauber, eine große Beeindruckungsmaschinerie. Aber nichts anderes ist ja auch die Musik - und das Bühnenbild schlägt tatsächlich die Brücke zwischen dem auskomponierten Drama und dem Regieansatz, also, wenn man so will: die Brücke von Wagner zu Wagner. Vom Zuschauerraum aus, in der Wirkung des Augenblicks, aber auch nur dann, geht alles auf. Am Ende, für einen wirklich, wirklich kurzen Moment, sogar das Herz.