Viele müssen jeden Euro fünfmal umdrehen Oberfranken: Altersarmut kommt "wie ein Tsunami"

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Am Ende bleibt nichts übrig. Und schon am Anfang ist kaum Geld zum Leben da. Im Alter rutschen viele Menschen in die Armut ab, warnen die Sozialverbände wie der VdK in Bayreuth. Foto: Archiv/Ritter Foto: red

Altersarmut - ein Problem der großen Städte? Weit gefehlt. In Oberfranken gelten bis zu 18 Prozent der Menschen im Alter als armutsgefährdet. Das ist traurige Spitze in Bayern. Der Sozialverband VdK und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) schlagen Alarm: Es werde, sagt VdK-Kreisgeschäftsführer Christian Hartmann „ein Tsunami von armutsgefährdeten Rentnern auf die Bundesrepublik“ zurollen.

 
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Altersarmut ist weiblich. „Nach Angaben des statistischen Bundesamtes wird fast jede dritte Frau als armutsgefährdet angesehen“, sagt Christian Hartmann. Alleinerziehende, „Erwachsene mit einem oder mehreren Kindern“ haben das größte Risiko, im Alter nicht von dem leben zu können, was sie eingezahlt haben ins Rentensystem.

Heidemarie K. (vollständiger Name der Redaktion bekannt) ist knapp 70 Jahre alt. Sie hat – wie es im Amtsdeutsch heißt – eine Rente für langjährig Versicherte, hat also mindestens 35 Jahre lang eingezahlt. Und sie kann nicht im Ansatz von dem, was sie bekommt, leben. „Ich bin fix und fertig“, sagt die Bayreutherin im Gespräch mit unserer Zeitung. Nicht einmal 700 Euro Rente bekommt sie. Fast alles geht für Miete, Strom und den Telefonanschluss drauf. Heidemarie K. muss nicht lange überlegen, sie kennt die Zahlen. Sie gehen ihr ständig durch den Kopf. „Ich muss jeden Euro fünfmal umdrehen“, sagt sie. 420 Euro Miete, 70 Euro Strom, 20 Euro Telefon. Sie muss mit Wohngeld aufstocken.

Verheiratet war sie mit einem Amerikaner, hat einige Jahr bei ihm in den Staaten gelebt. Nach der Trennung hat er keinen Pfennig Unterhalt gezahlt. Die vier Kinder hat sie allein großgezogen. „So lange meine Mutter noch gelebt hat, ist das alles noch gegangen“, sagt Heidemarie K. mit tränenerstickter Stimme. „Aber jetzt. Das ist eine Spirale, aus der man nicht mehr rauskommt ...“

Die Rentnerin hält ihr Geld eisern zusammen. Den acht Enkeln will sie ab und an zu besonderen Anlässen eine Freude machen. „Wenigstens eine Kleinigkeit.“ Aber wenn etwas kaputtgeht in ihrer Wohnung, bringt das die kleine Welt der herzkranken Frau ins Wanken: „Einen neuen Kühlschrank zu kaufen, das wäre unmöglich“, sagt sie. Sie müsste Verwandte oder Bekannte bitten, ihr zu helfen. Was sie ungern machen würde.

Zu essen gibt es bei Heidemarie K. in der Regel Milchreis. Oder Grießbrei. „Fleisch kann ich mir nur sehr selten leisten. Wenn es 30 Prozent reduziert ist im Supermarkt, dann kaufe ich mir mal eins.“ Obwohl sie kein Problem damit hat, im Kaufhaus Regenbogen oder im Laden des Roten Kreuzes gebrauchte Artikel zu kaufen – zur Tafel, sagt sie, würde sie nie gehen. „Ich würde mich zu sehr schämen.“

Ingrid Heinritzi-Martin, die Vorsitzende der Bayreuther Tafel, weiß um die Vorbehalte: „Ich kenne Frauen, die nie zur Tafel gehen würden. Sie möchten ihr Gesicht wahren.“ Das Bild aufrecht erhalten. Vom selbstbestimmten, selbst finanzierten Leben. Auch im Alter. Rund 450 Menschen kommen pro Woche zur Tafel. Tendenz: langsam, aber stetig steigend. „Der meisten unserer Kunden kommen als Rentner“, sagt Heinritzi-Martin. „Und wer als Rentner kommt, der wird von der Tafel auch nicht mehr wegkommen.“

Christian Hartmann, der VdK-Kreisgeschäftsführer, nennt die Entwicklung „beängstigend“. Armut habe viele Facetten – sie machen sich an Einkommen, sozialer Herkunft, Bildung und Gesundheit fest. Die Einkommensarmut jedoch werde zunehmen. In einem Maß, die Hartmann mit einem Tsunami vergleicht. Nach Berechnungen seines Verbands – und nahezu deckungsgleich der Gewerkschaft DGB – werden Menschen, die 35 Jahre lang 2500 Euro brutto verdient haben, „nicht einmal Grundsicherungsniveau erreichen“, sagt Hartmann. „Armutsgefährdet ist, wer 60 Prozent oder weniger des durchschnittlichen monatlichen Haushaltseinkommens eines Landes besitzt.“ 2013 sei die Armutsgefährdungsschwelle in Deutschland auf 892 Euro festgelegt worden, bayernweit liegt die Schwelle bei 973 Euro für Single-Haushalte. „In Oberfranken hat der durchschnittliche Rentenzahlbetrag aller Renten im Jahr 2013 682,09 Euro betragen“, sagt Hartmann. Männer bekamen durchschnittlich 1009 Euro Rente, Frauen 552 Euro – wenn sie nicht vor Erreichen des Rentenalters in Ruhestand gehen mussten.

„Verstärkt kommen Mitglieder, die früher aus Sympathie beim VdK waren, in die Beratung und sagen, ihnen langt das Geld nicht mehr. Obwohl sie das Sparen gelernt haben“, sagt Hartmann. Viele müssen Mini-Jobs machen, um über die Runden zu kommen. Müssen zum Sozialamt, die Rente aufstocken. „Oder weiterarbeiten, obwohl sie eigentlich nicht mehr können. Noch schlimmer wird es, wenn Pflegebedürftigkeit eintritt. Wo sollen die Menschen den Eigenanteil von 1100 bis 1400 Euro im Monat hernehmen?“

Hartmann sagt, in jüngster Zeit habe er ein weiteres Phänomen beobachten können, das er für „eine schlimme Entwicklung“ hält: „Ich habe immer wieder Ehepaare hier sitzen, die offen sagen, dass sie sich eigentlich nichts mehr zu sagen haben. Die sich aber nicht trennen können, weil sie es sich schlicht nicht leisten können – weil einer oder beide in die Armut rutschen würden.“

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