Mutter und Tochter ein Jahr vermisst

 Foto: red

In einem kleinen Ort an der Elbe verschwindet eine Familie. Der Vater wird kurz darauf tot aus dem Fluss gezogen. Aber wo sind seine Ehefrau und die zwölfjährige Tochter? Was vor fast einem Jahr in Drage passiert ist, bleibt ein Rätsel.

 
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Vor den Sommerferien 2015 werden die drei zuletzt gesehen, dann verliert sich die Spur der Familie aus Drage bei Hamburg. Sylvia Schulze fährt zur Arbeit bei einem Discounter, ihr Ehemann Marco holt sich Zigaretten aus einem Automaten. Die zwölfjährige Tochter Miriam ist wegen einer Erkrankung nicht in der Schule. Zusammen mit einer Freundin aus der gepflegten Siedlung will sie Reiterferien machen, doch dazu kommt es nicht mehr. «Miriam hat noch gesagt, dass sie nicht sicher sei, ob es klappt», sagt eine Nachbarin, die Mutter der Freundin. «Die beiden haben sich vor dem Haus über die Schule unterhalten und gelacht.» Auch sonst sei nichts auffällig gewesen.

«Am 22. Juli gibt es kein Lebenszeichen von Miriam mehr», sagt Hauptkommissar Michael Düker. «Sie dürfte aber noch gelebt haben, weil die Mutter wie immer zur Arbeit geht.» Miriam habe noch einen Arzttermin gehabt, dort sei sie nicht mehr erschienen. Düker war Leiter der Sonderkommission «Schulze». Die Soko wurde mittlerweile aufgelöst, alle Spuren waren abgearbeitet. Aber was mit Mutter und Tochter passierte, blieb rätselhaft.

Am Abend des 22. Juli wird Marco Schulze noch einmal gesehen - er stellt die Mülltonne vor die Tür. Wenige Tage später wird der 41-Jährige tot aus der Elbe geborgen, ertrunken, mit einem Betonklotz an den Beinen. «Wir gehen von einem Familiendrama aus», sagt Düker. «Eine Zeugin hat ausgesagt, dass sich die Frau möglicherweise von ihrem Ehemann trennen wollte. Doch wir haben absolut keine Hinweise auf eine Trennung.» Einen möglichen Auslöser gibt es, doch darüber darf Düker nicht reden. «Der Tag vor dem Verschwinden war anders als sonst. Irgendetwas hat die Familie bedrückt», sagte er im Herbst.

Sylvia Schulze hat in Geesthacht gearbeitet. Am 24. Juli meldet der Marktleiter sie als vermisst. Er ist besorgt, die 43-Jährige gilt als absolut zuverlässig. Die Polizei kommt nach Drage, die Haustür wird geöffnet. Portemonnaies und Papiere sind im Haus, ein Abschiedsbrief findet sich nicht. Schnell und mit großem Aufwand wird nach der Familie gesucht, auch in der Elbe. Taucher, Sonarboote und Hunde werden eingesetzt, auch ein Hubschrauber ist beteiligt. Immer wieder wird im Fluss gesucht, selbst Monate später noch.

Im August gibt es einen Hinweis: Der Fall wird in der ZDF-Sendung «Aktenzeichen ... XY ungelöst» gezeigt, eine Zeugin meldet sich. Sie will die Familie am 22. Juli an einem kleinen See im Buchholzer Ortsteil Holm-Seppensen gesehen haben. Und tatsächlich finden Suchhunde dort Geruchsspuren, doch nur die des Vaters führen wieder weg. Die Polizei sucht im Wasser und am Ufer, gefunden wird nichts. Unklar bleibt auch, ob Marco Schulze seine Frau und die Tochter dort getötet und dann abtransportiert hat. «Der See ist von Spaziergängern und Joggern stark frequentiert», sagt Düker. «Es ist schwer vorstellbar, dass jemand hier unbemerkt zwei Menschen töten kann, aber ganz ausschließen können wir es nicht.»

Neun Monate später meldet sich eine ältere Tochter von Sylvia Schulze in der Zeitschrift «Closer» zu Wort. Die 25-Jährige geht davon aus, dass ihr Stiefvater Frau und Tochter getötet hat, bevor er in den Fluss gesprungen ist. Wegen Trunkenheit am Steuer habe er den Führerschein verloren, erzählt sie im Mai. Weil Marco Schulze im Hauptjob in einer Chemiefabrik arbeitete, hätte er zwei Tote spurlos verschwinden lassen können, spekuliert sie. «Wir haben in der Firma Säuren ganz exakt auf Fehlbestände überprüft», sagt Düker dazu nur.

Der schlichte Backsteinbau mit dem schmucklosen Rasen fällt auf in der sonst so gepflegten Siedlung. Am Haus hat sich kaum etwas geändert. Vor der Tür stehen zwei rote Grablichter, daneben in einem Rahmen zwei Fotos der drei. Eines zeigt Sylvia Schulze und Miriam, die Mutter hat den Arm um das Kind gelegt. In der Ecke klemmt ein kleines Porträt des Familienvaters - zusammen und doch nicht eins. Die Bilder sind verblichen wie die Polizeisiegel an der Tür.

Am 29. Juni will Hauptkommissar Düker erneut bei «Aktenzeichen XY» nach Zeugen suchen. Um drei Fragen wird es dann im Kern gehen: Wer hat die Familie am 22. Juli noch in einem der beiden Wagen gesehen? Wer hat die drei am Mühlenteich beobachtet? Und: Wer hat den Familienvater in der Nacht zum 23. Juli auf dem Rad Richtung Lauenburg fahren sehen?

«Wir hoffen weiter, Zeugen zu finden, die sich doch noch an etwas möglicherweise Wichtiges erinnern», sagt Düker. Das könnten auch Details sein, die damals unwichtig schienen. «Solange wir die Leichen nicht haben, können wir nicht ausschließen, dass Sylvia und Miriam eventuell doch noch leben - das aber ist sehr unwahrscheinlich.»

«Wir hoffen, dass sich noch Zeugen melden - hier im Ort herrscht immer noch Ratlosigkeit. Das ist unsere letzte Hoffnung, das Schicksal der beiden zu klären», sagt Gemeindebürgermeister Uwe Harden (SPD). «Wir wollen den Fall unbedingt klären und die Vermissten den Angehörigen übergeben», betont Düker.

Möglicherweise werden eines Tages Spaziergänger einen grausigen Fund machen, nicht weit von der Elbe. «Miriams Lieblings-Kuscheltiere sind nicht mehr im Haus gewesen», sagt die Nachbarin.

 

dpa

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