Getrübt wird die Stimmung in Wetzlar dadurch, dass wesentliche Teile der erfolgreichen Mannschaft nach einem Jahr schon wieder auseinander fallen. Der Abschied der Müller-Brüder erschien als ein Auslöser dieser Entwicklung. War deswegen Ärger der Fans zu spüren?
P. Müller: „Ärger gab es hauptsächlich, als die Meldung vor dem Gummers-bach-Heimspiel an die Öffentlichkeit kam. Der Ärger richtete sich aber auch nicht so sehr darauf, dass wir Wetzlar verlassen, sondern dass wir ausgerechnet nach Melsungen gehen. So bleibt aber doch wenigstens die aggressive Derbystimmung erhalten. Dass es nach nur einem Jahr schon wieder auseinander geht, ist natürlich schon blöd – Michi war ja auch noch der Mannschaftskapitän. Aber die Fans müssen einsehen, dass der Profisport nun mal so ist. Es gibt doch kaum noch Spieler, die zehn Jahre beim selben Verein spielen. Es ist auch ein Pluspunkt dieses Berufs, dass man immer wieder etwas Neues erlebt. Der Abschied nach dem letzten Spiel in Wetzlar war dann auch richtig schön, und mit dem Punkterekord kann man auch ruhigen Gewissens gehen. Ich freue mich auf die neue Aufgabe und sehe auch die HSG weiter auf gutem Weg."
M. Müller: „Das hat damit zu tun, dass Melsungen mit seiner Finanzkraft schon mehrfach Spieler von Wetzlar weggekauft hat. Es wollte auch niemand, dass es so früh bekannt wird. Eine halbe Stunde nach unserem Gespräch beim Vorstand hat schon die Zeitung angerufen – keine Ahnung, wo die das schon wieder her hatten. Nach dem Gummersbach-Spiel wurde es offiziell, und da hatten wir beide ganz gut gespielt. Als wir dann auch gleich noch in Göppingen gewonnen hatten, waren die Fans schon wieder beruhigt. Ein weiteres Heimspiel wäre zu diesem Zeitpunkt wohl nicht so gut gewesen. Ein oder zwei Leute haben dann in den sozialen Netzwerken im Internet noch ziemlich genervt. Das fand ich schon ärgerlich, denn immerhin hatte man in Wetzlar in 15 Jahren noch nie so eine Saison."
Welche Ziele verbinden Sie mit dem Wechsel nach Melsungen?
P. Müller: „Die HSG Wetzlar will guten Handball bieten und möglichst sicher die Bundesliga halten. In Melsungen strebt man dagegen in den kommenden drei Jahren den Europapokal an. Ich werde jetzt 29 Jahre alt und bekomme wahrscheinlich nicht mehr viele solcher Chancen. Die Aussicht, einmal im Europacup zu spielen, ist in Melsungen sicher größer, als in Wetzlar."
M. Müller: „Es geht natürlich schon auch ums Geld, denn das Angebot aus Melsungen war nun mal sehr gut. Aber vor allem wird dort eine Mannschaft gebaut, die ernsthaft den Europacup anpeilen kann. Wir werden ein wirklich gutes Team haben – vor allem in der Abwehr –, mit dem man sich wieder mal ein anderes Ziel setzen kann als den Klassenerhalt. Dieses Gesamtpaket hat einfach gepasst."
Aber ist das denn realistisch? Wetzlar ist Tabellensiebter, aber der Abstand zum ersten Europacup-Teilnehmer auf Platz sechs (Hannover) war schon recht deutlich. Und davor kommen die fünf Großen: Kiel, Flensburg, Hamburg, Mannheim, Berlin. Kann man ernsthaft hoffen, eines dieser Teams abzulösen?
P. Müller: „Ich denke, dass die kommende Bundesligasaison die spannendste der letzten zehn Jahre wird. Flensburg ist mein persönlicher Titelfavorit. Kiel steht vor einem Umbau und wird wahrscheinlich erst einmal nicht mehr so dominant sein. Berlin hat sechs Abgänge zu verkraften, und es muss sich zeigen, wie lange der Hype in der Hauptstadt noch ohne Titel aufrechterhalten werden kann. Da gibt es schon Druck in der Hauptstadt. Auch Hamburg steht vor einem totalen Umbruch. Und dahinter kommt dann ja schon das breite Mittelfeld, in dem Melsungen sicher gut mitspielen kann."
M. Müller: „Auch ich erwarte eine sehr interessante Saison. Die Kieler hatten schon jetzt nicht mehr die Sonderstellung früherer Jahre. Wir hätten unser Heimspiel gegen sie durchaus gewinnen können. Bei den Rhein-Neckar Löwen ändert sich zwar nicht so viel, aber sie müssen erst einmal ein halbes Jahr ohne die verletzten Petersson und Sesum auskommen. In Berlin muss man abwarten, was die vielen jungen Spieler leisten können. Und in Hannover weiß man wohl selbst, dass es schwer wird, so eine tolle Saison noch einmal zu wiederholen."
Aber auch in Melsungen selbst verändert sich viel von einer international besetzten Mannschaft zu einer deutsch-schwedischen Kombination. Kann das sofort funktionieren?
P. Müller: „Am Spielsystem von Trainer Michael Roth wird sich grundsätzlich nichts ändern. Das ist bekannt, und das liegt uns auch ganz gut. Vor allem wird eine junge Mannschaft zusammen kommen, die richtig hungrig ist. Michi und ich gehören da schon zu den Älteren. Genau das ist es meiner Meinung nach, was Melsungen bisher gefehlt hat. Da kann jetzt richtig was vorwärts gehen."
M. Müller: „Ich hatte noch nie Probleme, mich in eine Mannschaft zu integrieren. Wir beide kennen viele unserer künftigen Teamkollegen und natürlich vor allem den Trainer. Da habe ich keine Zweifel, dass sich diese Mannschaft schnell zusammen findet. Obwohl zum Erfolg natürlich auch Glück gehört – vor allem mit Verletzungen –, sollte man sich doch ehrgeizige Ziele setzen. Platz neun als Ziel wäre mir jedenfalls zu wenig."
Wie beurteilen Sie generell die Lage im deutschen Handball, nachdem die Nationalmannschaft nach den Olympischen Spielen auch noch die Europameisterschaft verpasst hat?
P. Müller: „Man muss wohl sagen: Der Handball befindet sich auf einem absteigenden Ast. Die Nationalmannschaft bringt nun mal die Zuschauer in die Halle, und da bedeutet das Scheitern in der EM-Qualifikation einen Riesenschaden. Der Gewinn der Weltmeisterschaft 2007 ist nicht konsequent ausgeschlachtet worden und wichtige Entwicklungen wurden im Handball verschlafen. Man muss sich zum Vergleich nur die Fortschritte im Basketball anschauen, was die Medienpräsenz und die großen Hallen angeht. Ohne den Erfolg der Nationalmannschaft daran anzuknüpfen, wird umso schwerer."
M. Müller: „Das ist schon bitter! Jetzt wird viel darauf rumgehackt, dass die deutschen Spieler in ihren Vereinen zu wenig Verantwortung bekommen, aber ich halte das für totalen Quatsch. Glandorf, Weinhold, Haas, Christophersen, Kneer – sie alle tragen viel Verantwortung in ihren Bundesliga-Vereinen. Einzige Ausnahme unter den Stammspielern ist Wiencek in Kiel. Vielleicht sind wir derzeit aber einfach nicht besser. Es gibt im Team wohl keine Charaktere wie Kretschmer, Schwarzer oder Baur – aber die waren das auch nicht von Natur aus. Die Mannschaft ist in einem Umbruch, das braucht seine Zeit, und dazu gehört es auch, dass man mal verliert. Grundsätzlich habe ich aber schon immer gesagt, dass vor allem der Basketball droht, dem Handball den Rang abzulaufen – mit den großen Hallen und der Stimmung bei den Spielen. Dazu kommt noch Dirk Nowitzki als medienwirksame Gallionsfigur. Sollte die HBL noch Sport1 als bisher treuen Medienpartner verlieren, wird es schwer."