Kommentar: Die Jahrhundertagenda

Von Peter Rauscher
September 2015 in Budapest: Ein Flüchtling mit einem Bild von Bundeskanzlerin Angela Merkel um den Hals ist auf dem Weg nach Deuschland. Er nahm die Kanzlerin beim Wort mit ihrem Satz "Wir schaffen das." Foto: Zsolt Szigetvary/dpa-Archiv Foto: red

Dieser eine Satz wird Merkels Kanzlerschaft überdauern: „Wir schaffen das.“ Gesprochen vor einem Jahr, als auch sie noch nicht einmal im Ansatz wissen konnte, was in der Flüchtlingskrise auf Deutschland und Europa zukommt.

 
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Im Nachhinein ist oft von Merkels „Agenda-Moment“ gesprochen worden. Gemeint ist: Ähnlich wie ihr SPD-Vorgänger Gerhard Schröder seine Partei mit seiner Agenda 2010 und ihren Sozialeinschnitten vor eine Zerreißprobe stellte, mutete Merkel dies den Unionsparteien mit ihrer Flüchtlingspolitik zu. Im Ergebnis hat die SPD seitdem die Konkurrenz der Linkspartei am Bein, die Union hat es mit der erstarkten AfD zu tun bekommen. Und einem Parteiensystem, in dem Regierungen nur noch aus großen Koalitionen oder Dreierbündnissen gebildet werden können.

Deutschland ist zerrissen

Diese machtpolitischen Verschiebungen sind aber noch überschaubar im Vergleich zu dem, was die Flüchtlingskrise mit der Gesellschaft gemacht hat und immer noch macht. Mal abgesehen von den politischen und finanziellen Herausforderungen einer Integration Hunderttausender Flüchtlinge aus islamischen Kulturkreisen. Deutschland, lange Jahre geprägt von innerer Stabilität und einem demokratischen Grundkonsens, ist innerlich zerrissen.

Zeitalter der Unsicherheit

Das Spektrum reicht von jenen, die zupacken und sich als ehrenamtliche Flüchtlingshelfer engagieren auf der einen Seite bis zu Rechtsextremisten, die Anschläge auf Unterkünfte verüben. Die bürgerliche Mitte hin- und hergerissen zwischen Skepsis und Furcht vor Überforderung, angeblich drohender Islamisierung und wirtschaftlichem Abstieg. Flüchtlings-, Schulden-, Euro- und Brexitkrise potenzieren sich zusammen mit der allgegenwärtigen Terrorgefahr. Wir leben in einem Zeitalter der Unsicherheit.

Schaffen wir das? Es ist viel zu früh, diese Frage nach einem Jahr zu beantworten. Zum Vergleich: Die SPD ist sich nach 13 Jahren noch immer nicht sicher, ob Schröders Agendapolitik ein Erfolg war oder nicht. Die Flüchtlingskrise ist noch von ganz anderem Kaliber. Eine Jahrhundertaufgabe.