Kinder in Suchtfamilien: Wenn Mama säuft

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Frauen, die zu viel trinken werden in der Fachklinik Haus Immanuel betreut. Träger der Einrichtung ist der deutsche Gemeinschafts-Diakonieverband GmbH in Marburg/Lahn. Dieser wird vertreten durch das Diakonissen-Mutterhaus Hensoltshöhe in Gunzenhausen. Symbolfoto: dpa Foto: red

Rund 2,6 Millionen Kinder wachsen mit suchtkranken Eltern auf. Mediziner und Therapeuten der Fachklinik Haus Immanuel klärten über die oftmals übersehenen Leiden der Mädchen und Jungen auf. Sie sind einem hohen Risiko ausgesetzt, später selbst süchtig zu werden.

 
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Denn bereits vor der Geburt sind die Kinder alkoholsüchtiger Frauen erheblichen Gefahren ausgesetzt. Mediziner nennen die Folgen „Fatale Alkoholspektrum Störung“. Sie führt zu schweren körperlichen und geistigen Schäden, wie Fehlstellungen an Händen und Füßen. Bei 10.000 Geburten im Jahr ist der Alkoholmissbrauch der Mutter die häufigste Ursache für nicht genetisch bedingte geistige Behinderungen.

Ein Drittel der Kinder wird suchtkrank

Und das eigentlich Fatale ist: Ein Drittel dieser Kinder alkoholkranker Eltern wird selbst süchtig, ein Drittel wird psychisch krank und nur ein Drittel bleibt gesund. „Wir dürfen diese Kinder nicht links liegenlassen“, ist daher die feste Überzeugung von Klinikleiter Gotthard Lehner. „Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, der wir uns stellen müssen.“

Jung, alleinerziehend oder mit einem suchtkranken, gewalttätigen Partner an der Seite – so beschreibt Dr. Gabriele Hilgenstock die von ihr betreuten Frauen. Sie kommen in die Fachklinik im Thurnauer Ortsteil Hutschdorf, um sich 15 Wochen lang intensiv mit ihrer Alkoholsucht auseinanderzusetzen. Dabei ist Haus Immanuel ein einzigartiges Modell in ganz Nordbayern. Denn die Mütter dürfen ihre minderjährigen Kinder zur Therapie mitbringen.

Mütter im Dauersuff

Mütter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die selbst schon in ihrer Jugend zu viel Alkohol tranken, wie Gabriele Hilgenstock berichtet. „Sucht hat immer mit Schuld und Scham zu tun“, sagt die erfahrene Ärztin über die herausfordernde Therapie. Es sei schwer, den Müttern gerecht zu werden. Und erst recht den Kindern, die von Außenstehenden oftmals als „gestört“ wahrgenommen würden. Kinder, die in Suchtfamilien aufwachsen, erhielten viel zu wenig Zuwendung und würden häufig vernachlässigt. „Diesen Hunger nach Zuwendung spüren wir hier ganz deutlich.“ Die Kinder wüchsen in einer Atmosphäre der Unsicherheit und Angst auf und rutschten ab in eine Co-Abhängigkeit.

„Sie entwickeln vielfach ein Helfersyndrom, weil sie den ausfallenden Elternteil ersetzen müssen.“ Zum Beispiel kümmern sie sich allein um den Haushalt oder um jüngere Geschwister. Ihre vollkommene Anpassung sei ihre Überlebensstrategie. „Wir fragen uns: Was wird aus diesen Kindern? Wen suchen sie sich? In der Regel wieder eine Person, der sie helfen können“, sagt Gabriele Hilgenstock. Das könne ein hilfsbedürftiger Lebenspartner sein. Oder ein helfender Beruf. Doch häufig bleibe die ganze Anstrengung ohne Erfolg. Und das Gefühl „Ich genüge nicht“ setzt sich fest.

Kinder leben in zerbrechlichen Beziehungen

Der Therapeut Volkmar Schulze arbeitet in der Mutter-Kind-Station, in der zwölf Plätze für Begleitkinder angeboten werden. „Die Mütter befinden sich häufig in einer Zerreißprobe. Sie sorgen sich um die Daheimgebliebenen und um ihr mitgebrachtes Kind.“ Darüber vernachlässigten sie sich selbst komplett. Wer alkoholkrank sei, sei emotional instabil. Das hat oftmals extreme Stimmungsschwankungen und unberechenbares Verhalten zur Folge. „Ein Kind kann keine sichere Bindung aufbauen, wenn es seinem Vater oder seiner Mutter ständig schlecht geht.“ Manche Kinder versuchten, die Situation zu bewältigen, indem sie schneller erwachsen und selbstständig werden. „Sie werden dann zu Eltern ihrer Eltern, denken für sie mit, holen ihre Medikamente ab.“

Lernen wieder Vertrauen zu fassen

Die Frauen müssten überhaupt erst zu der Erkenntnis kommen, „mein Kind hat etwas mitbekommen“, sagt Kinder- und Jugendtherapeutin Beate Jezussek, die die Aktionswoche unterstützt. Bei den Aufnahmegesprächen werde dies von den meisten Patientinnen bestritten. Die Leiterin des Kinderhauses Kindernest weiß, dass es sehr lange dauern kann, bis das verloren gegangene Vertrauen der Kinder in die Eltern wieder hergestellt ist. Bis sie die Mutter oder Vater wieder als verlässliche Bezugsperson erleben. „Bei uns sollen sie lernen: Es lohnt sich, sich Erwachsenen wieder anzuvertrauen.“

Beate Jezussek betreut Kinder bis ins Alter von zwölf Jahren. Schulkinder besuchen die Grundschule der Gemeinde oder weiterführende Schulen im Landkreis während der Therapie ihrer Mütter. Die Frauen kommen aus dem ganzen Bundesgebiet in die Fachklinik. Was sie in Hutschdorf vermittelt bekommen, sollen überwiegend positive Erlebnisse sein. „Die Kinder sollen spüren: Ich war meiner Mutter so wichtig, dass sie mich mitgenommen hat.“

Lesen Sie dazu auch das Interview mit Dr. Gabriele Hilgenstock

 

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