Extremsport: 5000 Kilometer am Stück

Von Jürgen Schott
Meist sind sie allein unterwegs, die Langstreckenradfahrer wie Bernd Rücker. Foto: fue Foto: red

Sein Hund heißt „Walker“, doch mit dem Walken, dem Fortbewegen auf den eigenen Beinen, hat es „Herrchen“ Bernd Rücker nicht so sehr. Zwei dünne Rennradreifen müssen es bei ihm schon sein. Die aber versetzt der 44 Jahre alte Bayreuther fast pausenlos in Bewegung. „Eigentlich jeden Tag“ sitze er im Sattel, beantwortet Rücker die Frage nach seinem Trainingspensum. Der Spruch „Von nichts kommt eben nichts“ schwingt dabei unüberhörbar mit.

 
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Rücker ist Randonneur, Langstreckenradler, Ultra-Cyclist, Extremsportler. Fast ein halbes Dutzend Wettbewerbe stehen für 2016 auf seiner Agenda, bei denen 600 Kilometer und mehr zu bewältigen sind, in einem Stück, auf sich allein gestellt und keineswegs im Hobbyfahrertempo.

Ein Verrückter? „Ich bin halt gern lange draußen“, nennt der Grafik-Designer einen Teil seiner Motivation für das extreme sportliche Tun. Die Möglichkeit, als Selbstständiger die Zeit entsprechend einzuteilen, liefert die Voraussetzung für intensives Radfahren. Zwei bis drei Stunden unter der Woche, jeweils sechs bis sieben dann am Wochenende.

Motivation: Etwas nicht Alltägliches tun

„Was die meisten machen, langweilt mich schnell“, gibt der frühere Snowboard- und Mountainbikefahrer einen weiteren Einblick in sein Innenleben. Er wolle lieber „tun, was nicht alltäglich ist“, fügt er hinzu. Und so fährt er auch im Winter. Man muss dran bleiben, ein gewisses Pensum erfüllen, wenn man Ziele hat wie er. „Ich bin auch extrem resistent gegen Kälte“, sagt Rücker. Und: „Bei minus 15 Grad fährt eh keiner mehr.“ Aber wenn das Thermometer nur ein paar Kältegrade anzeigt, ist das für ihn kein Grund, daheim zu bleiben. Mit der richtigen Kleidung geht alles. „Notfalls trage ich fünf Schichten.“

Warum das alles, ist es eine Sucht? „Nein, ich fahre ja nicht, damit es mir besser geht. Das wäre Sucht.“ Aber es geht ihm schon besser, wenn er daheim absteigt: „Man fühlt sich klasse, wenn man etwas für seinen Körper getan hat. Ich sehe unterwegs so viel, das ist wahnsinnig schön.“ Das von so manchem Läufer beschriebene Gefühl, wonach eine Euphorie die körperliche Anstrengung vergessen lässt („Runner’s High“), stellt sich bei ihm freilich nicht im Training ein. Erst bei ganz langen Distanzen, „so nach zehn Stunden etwa“, gelingt es ihm, „alles auf null zu schalten“. Andererseits gelte für ihn auch der Satz: „Ich muss mich bei allem nicht quälen.“

Gegen die Gefahr, dass das Training zu eintönig wird, hilft eine entsprechende Planung. „Man muss variieren“, verrät Rücker. Lange, eher ebene Touren führen ihn durchs Kulmbacher Land Richtung Bamberg. Und wenn es mal schön bergig sein soll, locken ihn Frankenwald, Fränkische Schweiz und Fichtelgebirge: „Über Gefrees zum Großen Waldstein, dann Schneeberg, Ochsenkopf, über Weidenberg zurück, die 18-Prozent-Wand bei Seulbitz als krönender Abschluss“ – wenn Bernd Rücker so seine Touren aufzählt, könnte man meinen, er sei Bergwanderer. Aber nein, er ist unterwegs mit seinem Cervelo-Rad (Carbonsattel, Aerolaufräder) oder mit seinem Cube. Ebene Strecken, wie er sie bei einem Aufenthalt im Münsterland kennenlernte, seien langweilig. „Da sagen sie dir vorher, über welche Hügel du kommst. Und du fragst dich dann am Ende deiner Runde, wo die denn waren.“

An seinen Sportgeräten sei nichts Besonderes dran, sagt Rücker. Na ja, eines möchte der Ausdauerspezialist, der Mitglied beim Team Icehouse ist, nicht missen: die elektronische Gangschaltung. Ein leichter Knopfdruck zum Umwerfen der Kette, anstatt mit einer Drehung des kompletten Unterarms den Hebel zu betätigen – das mache in der Summe der Schaltvorgänge einen enormen Unterschied, betont er. Schmerzen in Nacken oder Schulter? Kennt er nicht. Und auch das stundenlange Sitzen auf dem Rennsattel ist für ihn kein Thema. „Ich lehne sogar dicke Sitzpolster in der Hose, die reiben können, ab; dünne reichen doch völlig aus.“

So viel zum Physischen. Und die Psyche? Schließlich wollen Veranstaltungen über 300, 400, 600 Kilometer bewältigt werden, oder gar Höhepunkte wie das Race Across Italy (808 km am 23. April) oder ab 20. Juni die Kroatien-Durchquerung (1400 km). Musik ist immer dabei, von Johann Strauß bis Metallica. Rücker: „Ich habe ein breites musikalisches Spektrum, stelle mir Playlists zusammen, die dann – passend zur Stimmung oder zur Tageszeit – abgespielt werden.“

Eine weitere Hilfe: „Ich unterteile mir die Strecke gedanklich in 150-km-Abschnitte, die ich ja auch im Training fahre“, schildert der Bayreuther, wie er seinen Kopf beschummelt. Und um den Willen zu schulen, hat sich Rücker eine Spezialschikane ausgedacht: „Bisweilen nehme ich mir zu Hause eine 90-km-Runde vor. Und wenn ich dann heimkomme, beschließe ich, diese nach dem Auffüllen von Getränke- und Riegelvorrat sofort noch mal zu absolvieren. Das sorgt für eine gewisse mentale Härte, die man bei den Rennen auch braucht.“ Der innere Schweinehund mault vielleicht auf den ersten 10 oder 20 Kilometern der Zusatzetappe, „aber wenn es dann am Untreusee in Hof wieder Richtung Bayreuth geht, ist das kein Thema mehr“.

Schon ein Thema ist das Geld. Langsam werde wohl Sponsorenhilfe nötig, meint der 44-Jährige. Der Materialverschleiß (Reifen, Ritzel, Bremsen, Kleidung) sei beträchtlich, Startgelder sind zu bezahlen. Kosten von 25 000 Euro etwa für eine (begleitete) Teilnahme mit allem Drum und Dran beim Race Across America (RAAM), dem wohl härtesten Rennen dieser Art von der West- zur Ostküste der USA, seien realistisch. Ja, für Bernd Rücker ist das RAAM ein Thema, 2017 könnte es schon so weit sein, die notwendige Qualifikation für die 5000-km-Strapaze möchte er heuer beim Race across Germany in Angriff nehmen. Ab 15. Juli geht es dann über 1110 Kilometer von Flensburg nach Garmisch. 48 Stunden ist in Rückers Altersklasse das Limit.

Unterwegs mal schnell etwas einkaufen

Solche Zeitfenster bereiten ihm keine Probleme, auch wenn diese ein Brutto-Wert sind, also etwa Schlaf und Verpflegungspausen dazugehören. Die bekannte Veranstaltung Paris – Brest –Paris (1230 km, 11 500 Höhenmeter) hat er im vergangenen August, wie berichtet, in 69:45 Stunden absolviert – ohne jegliche fremde Hilfe. „Es gilt, extrem gut organisiert zu sein. Ich weiß in der Regel, wo ich unterwegs was zu essen besorgen kann. Mit dabei sind neben Mantel und Schläuchen fürs Rad noch ein Ersatzakku für das Licht sowie Verpflegung etwa in Form von Energieriegeln. „Ich habe Nüsse als ideale Nahrung für mich entdeckt“, sagt der Bayreuther.

Die Starter bei diesen Wettbewerben, auch Brevet genannt, sind auf sich allein gestellt, haben auf einer offiziellen Strecke Kontrollpunkte anzufahren. „Man könnte unterwegs sicher schummeln, aber für die Teilnehmer ist es eine Ehrensache, das nicht zu tun“, erzählt Bernd Rücker. „Es gibt keine Preisgelder, es kommt nicht darauf an, als Erster zurück zu sein. Wer dort startet, will die verlangte Strecke bewältigen, will sich selbst etwas beweisen. Er würde sich ja nur selbst bescheißen, wenn er unterwegs ins Auto oder in die Bahn steigt.“

Bernd Rücker wird Mitte März ins Auto steigen, um nach Treuchtlingen (Mittelfranken) zu fahren. Dort steht der erste Brevet des Jahres über 200 km an. Dann geht es fast Schlag auf Schlag: 300, 800, 400, 600 . . . Knapp 4000 Rennkilometer sollte er in den Beinen haben, wenn die Deutschland-Durchquerung losgeht. Im August ist dann mal Unterstützung für seine Freundin, eine amerikanische Künstlerin, angesagt, die auch vom Fieber des Langstrecken-Radelns erfasst ist und in Norwegen startet. Und dann ist Amerika nicht mehr weit für Bayreuths Perpetuum mobile.