In Nürnberg gibt es ein Mehrgenerationenhaus, von dem Bayreuth sich einiges abgucken kann Kann Mehrgenerationenwohnen funktionieren?

Karl Müllenhoff ist 80 Jahre alt, Maria sieben Wochen. Sie sind nicht Opa und Enkelin, sondern Mitbewohner. Gemeinsam mit 101 weiteren Mietern leben sie im Marthahaus in Nürnberg. Geht es nach den Plänen von Oberbürgermeisterin Brigitte Merk-Erbe, macht ein solches Generationen übergreifendes Wohnprojekt zukünftig auch in Bayreuth Schule. Der Kurier hat sich angesehen, wie das Mehrgenerationenwohnen in Nürnberg funktioniert.

 
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Maria ist müde. Evelyn Reischl de Gutierrez möchte ihre sieben Wochen alte Tochter zurück in ihre Trage legen. Doch die dreijährige Noemi will auch beachtet werden. Sie klammert sich an das Bein ihrer Mutter. „Brauchst du Hilfe“, fragt Ingegerd Ljungström ihre Mitbewohnerin. Die 73-Jährige und die junge Mutter leben zusammen im Marthahaus in Nürnberg. „Als Maria kurz vor Weihnachten zur Welt kam, ist Noemi bei einer anderen Nachbarin geblieben“, erzählt Evelyn Reischl de Gutierrez. Alltag im Marthahaus. In dem Generationen übergreifenden Wohnprojekt leben Jung und Alt miteinander und unterstützen sich gegenseitig.

103 Bewohner, darunter ein knappes Viertel Kinder, verteilen sich auf sechs Hausgemeinschaften. Letztere dienen dem intensiveren Austausch. Mieter mit ähnlichen Interessen kommen hier zusammen. So wie Familie Gutierrez, die gemeinsam mit anderen Familien mit Kindern der Hausgemeinschaft Colorado angehört.

"Die Chemie muss stimmen"

Im Marthahaus ist der Älteste 80 Jahre alt, die Jüngste sieben Wochen. „Die Senioren vereinsamen bei uns nicht und die Kinder können toben. Alle Generationen profitieren“, erklärt Vermieter Jochen Kapelle das Konzept des Hauses. „Gerne würde ich selbst hier wohnen, doch ich kann nicht Mieter und Vermieter gleichzeitig sein.“ Der Rollstuhlfahrer hatte die Idee zu dem Wohnprojekt. Dennoch: „Ein Gutmensch bin ich nicht“, sagt Kapelle. In den nächsten Jahren müssen die 13 Millionen, die das Marthahaus gekostet hat, abbezahlt werden. Ein Gewinn wird derzeit noch nicht erwirtschaftet.

Aus 16 Nationen kommen die Bewohner. Viele kannten sich schon vorher. Die 62 Wohnungen sind derzeit alle vermietet. Wer Interesse hat, einzuziehen, kommt auf eine Warteliste. Wird eine Wohnung frei, ist jedoch ein Einzug nicht garantiert. Es gilt, sich für eine Hausgemeinschaft zu entscheiden und sich den Bewohnern vorzustellen – nicht einmal, sondern mehrfach. „Die Chemie muss stimmen“, sagt Kapelle. Der Vermieter entscheidet nicht selbst, an wen er seine Wohnungen vergibt, sondern lässt die Mieter bestimmen. In einer Plenumssitzung müssen sich alle Bewohner mit den neuen Mietern einverstanden erklären. „Allerdings wurden erst zwei Mal Interessenten abgelehnt“, sagt Kapelle und schmunzelt. „Doch wer nur eine Wohnung sucht, kommt bei uns nicht unter.“

Gegenseitige Hilfe

Das Soziale steht in der Nürnberger Marthastraße, südlich des Wöhrder Sees, im Vordergrund. Es gibt zahlreiche Aufgaben. Sie reichen von der Gartenarbeit über das Schneeräumen bis hin zur Kinderbetreuung. In 21 Arbeitskreisen werden die Aufgaben koordiniert. „Wir zwingen niemanden zu einer Aufgabe, aber unser Wohnprojekt basiert auf gegenseitiger Hilfe“, erklärt Vermieter Kapelle. „Das ist nicht jedermanns Sache.“

Penny Shaw sieht das ähnlich. Die 35-Jährige wohnt seit eineinhalb Jahren mit ihrem Lebensgefährten im Marthahaus. „Viele meiner Freunde sind sehr an dem Projekt interessiert, können sich dann aber doch nicht vorstellen, einzuziehen“, sagt sie. „Letztes Jahr haben wir einen Apfelbaum im Garten gepflanzt und sind anschließend darum getanzt. Manche Leute reagieren da skeptisch“, so Shaw. Auf der Warteliste stehen vorwiegend ältere Interessenten, dabei werden gerade jüngere Mieter gesucht. „Schließlich wollen wir kein Altersheim werden“, sagt Ingegerd Ljungström mit einem Lachen. Der Maßstab, den sich die Bewohner selbst gesetzt haben: Ein Drittel der Mieter soll jünger als 40 sein, ein Drittel zwischen zwischen 40 und 60 und ein Drittel älter als 60 Jahre. Im Gemeinschaftsraum hängt eine Grafik, die zeigt, dass diese Aufteilung bislang umgesetzt wird.

"Wir sind eine kleine Welt"

Yoga, Bauchtanz, Singen oder ein Gesprächskreis – die Bewohner organisieren zahlreiche Kurse. Im Marthahaus wohnen Singles, Alleinerziehende, Ehepaare, Homosexuelle, Muslime und Menschen mit Behinderung. „Wir sind eine kleine Welt“, sagt Penny Shaw. Erzeugt eine solche Vielfalt Konflikte? Nicht mehr, als überall anders auch, lautet die einhellige Meinung der Bewohner. Streit gebe es eher, wenn Arbeit ungleich verteilt werde. Gerade hat sich wegen eines Konfliktes eine Hausgemeinschaft in zwei neue Gruppen unterteilt.

„Jeder gibt, so viel er kann“, sagt Penny Shaw, die jeden Samstag zwei Kuchen für das Café des Hauses backt. Sie erhält Geld für die Zutaten, nicht jedoch für die Arbeitszeit. „Ich wurde auch gefragt, ob ich in den Arbeitskreis Finanzen gehe. Wenn ihr ruiniert werden wollt, mache ich das.“ Jeder leiste, was den eigenen Interessen und der eigenen Begabung entspricht. Jeder habe andere Vorstellungen von Sauberkeit, sagt Shaw, doch Konflikte würden direkt angesprochen – in den Arbeitskreisen und einmal im Monat bei der Vollversammlung. Schließlich sei es im Interesse aller Bewohner, anfallende Arbeit selbst zu verrichten und so die Betriebskosten niedrig zu halten.

Gemeinsam und individuell

„Wir fühlen etwas für das Haus“, sagt Ingegerd Ljungström. „Vor dem Einzug hatte ich ein bisschen Angst, aber hier zu wohnen, ist das Beste, was mir passieren konnte“, sagt die Schwedin. Die 73-Jährige wohnt seit einem knappen Jahr im Marthahaus und arbeitet ehrenamtlich im Café – dem Herz des Hauses. Bewohner und Nicht-Bewohner treffen sich hier. „Wenn jemand dort sitzt, gehe ich hin und rede. Wenn ich meine Ruhe haben will, gehe ich in meine Wohnung“, sagt Ingegerd Ljungström. Diese Mischung aus Gemeinschaft und individuellem Wohnen macht den Reiz des Hauses für seine Bewohner aus.

„In einem großen Haus zu wohnen und niemanden zu kennen, fände ich gruselig“, sagt Penny Shaw. Sie schätzt den Umgang mit Menschen, mit denen sie sonst wenig zu tun hätte. Durch das Zusammenleben lerne man, das eigene Verhalten zu reflektieren, aber auch nein zu sagen und sich zurückzuziehen. „Am Anfang haben alle geklingelt, um sich vorzustellen. Ich dachte, ich werde verrückt“, erzählt Shaw. Doch nur wenn sie sich bei McDonald's etwas zu essen holt, würde Penny Shaw gerne anonym in einem Mehrfamilienhaus wohnen: „Dann hoffe ich, dass mich mit der Tüte in der Hand niemand sieht.“

„Man muss sich öffnen“, sagt Ingegerd Ljungström. Gerade für ältere Bewohner sei das Zusammenleben nicht immer einfach, müssten sie doch häufig Gewohnheiten aufgeben. Für Karl Müllenhoff ist das kein Problem. Der älteste Bewohner des Marthahauses schätzt den Kontakt zu seinen Mitbewohnern – und sie schätzen seine Fürsorge. „Er hat uns schon vom Balkon befreit, als unsere kleine Tochter Noemi uns ausgeschlossen hat“, berichtet Anggelo Gutierrez. Der Familienvater kommt aus Peru, die Großeltern sind weit weg. Dass seine Töchter trotzdem gemeinsam mit älteren Menschen aufwachsen, gefällt ihm am Marthahaus.

Tipps für die Bayreuther

Für ein Generationen übergreifendes Wohnen in Bayreuth haben die Nürnberger einige Tipps parat. Das Haus sollte nicht auf der grünen Wiese, sondern an einem zentralen Ort errichtet werden, rät Karl Müllenhoff. Einkaufsmöglichkeiten, kurze Wege zu Ärzten und eine Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr seien für Familien genau so wichtig, wie für ältere Bewohner. Penny Shaws Tipp: Nichts überstürzen. Finden sich vor Baubeginn Gruppen, die zusammen leben wollen, sei dies ideal. Schließlich stehe der eine für den anderen ein. Einem harmonischen Miteinander der Generationen steht dann nichts mehr im Weg.

Hintergrund: Marthahaus Nürnberg

Im November 2013 zogen die ersten Bewohner in das Generationen übergreifende Wohnprojekt Marthahaus in Nürnberg ein. „Solidarität zwischen Jung und Alt und die Integration aller Bewohner sind unser Ziel“, sagt Vermieter Jochen Kapelle. Das Bundesfamilienministerium hat 100.000 Euro zu den Baukosten beigesteuert. Eigentümer ist die WIN GmbH, ein Tochterunternehmen des Wohnen und Integration im Quartier e.V. Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly ist Schirmherr.

Das Projekt besteht aus 62 in sich abgeschlossenen Mietwohnungen, Gemeinschaftsräumen, einer integrativen Kindertagesstätte, einem Café, einem Garten und Gewerbeflächen. 17 Wohnungen sind sozial gefördert. Das gesamte Haus ist barrierefrei. Es wurde ein hoher Energiestandard realisiert. Weitere Informationen gibt es unter www.wingmbh.de.

In Bayreuth gibt es kein vergleichbares Projekt. Bei dem Mehrgenerationenhaus in der Evangelischen Familien-Bildungsstätte handelt es sich um einen Treffpunkt. Wohnen kann man dort nicht.

isa

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