Reissinger war in seiner Produktivität kaum zu schlagen. Er beteiligte sich an zahlreichen Wettbewerben, auch für Projekte in Schweden und gar Haiti. Reissinger fasste alles an. Für das vom Krieg zerstörte München legte er 1949 einen preisgekrönten Entwurf für den Marienplatz vor, nur für Fußgänger und Tram. Damit war er seiner Zeit weit voraus.
Protzarchitektur am Luitpoldplatz
Dass sich Reissinger aber auch von der Gegenwart überwältigen lassen konnte, bewies er im Dritten Reich. Durch einen Anbau an Haus Wahnfried hatte der mit den Wagners eng verbundene Architekt auf sich aufmerksam gemacht. Bald kam Hans Schemm auf ihn zu, der Gauleiter des Gaus bayerische Ostmark. Und beauftragte ihn mit dem "Haus der deutschen Erziehung", dessen Protzarchitektur bis zum heutigen Tage den Luitpoldplatz verschandelt.
Schemm, damals auch noch bayerischer Kultusminister, wusste sich von Hitler nicht mehr so geschätzt wie in vergangenen Zeiten. Das Projekt hatte er daher auch für sich behalten. Mit dem Ergebnis, dass Hitler bei seinen Besuchen in Bayreuth ostentativ wegsah, wenn er die Baustelle passierte. Vom fertigen Bau aber zeigte er sich beeindruckt. "Schön, wirklich schön", murmelte der "Führer" nach einer langen, langen Besichtigung. Zumindest schreibt das Reissinger Jahrzehnte später in seinen Erinnerungen.
Der Weg zu größeren Projekten war geebnet. So baute Reissinger bald die ehemalige markgräfliche Reithalle zum nationalsozialistischen Weiheort um. Benannt wurde sie nach Ludwig Siebert, dem bayerischen Ministerpräsidenten unter Hitler. Zuvor schon hatte er die Trauerfeier für Schemm inszeniert, der im März 1935 bei einem Flugzeugabsturz tödlich verletzt worden war. Fast die ganze Nazi-Spitze kam dazu nach Bayreuth.
Bayreuth sollte Gauhauptstadt werden
Und Reissinger bekam Folgeaufträge. Bayreuth sollte zur Gauhauptstadt werden. Und Reissinger plante mit großen Strich Aufmarschplätze, riesige Hotels, Kongresssäle und Theater. Der "Führer" schaute seinem Mann in Bayreuth immer wieder über die Schulter. Und war hingerissen. "Reissinger, das kann man nimmer schöner machen, es ist so lebendig und so klar." Nur manchmal äußerte er Kritik. "Ein einziger Saal?", fragte der Diktator zu den Plänen für seine Repäsentationsräume. "Wo soll ich da zum Beispiel Mussolini empfangen? Ich brauche drei Säle, einen Festsaal, einen Vorsaal und einen Speisesaal."
Das war 1938. Bald sollte Hitler seinen Weltkrieg entfesseln, die Planungen gerieten ins Stocken und lagen bald ganz auf Eis. Hätte Reissinger fortfahren dürfen, hätte er wohl Bayreuth auf längere Sicht und gründlicher zerstört als im April 1945 die Bomben der Amerikaner. "Abreissinger" - das soll seinerzeit sein Spitzname gewesen sein. Die unzähligen Toten, die Hitlers Wahnsinn vor den Bomben auf Bayreuth gefordert hatte: Von ihnen liest man in Reissingers Erinnerungen nichts.
Seine nähe zur NSDAP schadete ihm später nicht
Reissinger ging unbeschadet aus der Katastrophe hervor. Seine Sieberthalle, sein Haus der deutschen Erziehung waren schwer getroffen. Er aber ging - auch aufgrund der Fürsprache von Winifred Wagner - fast unbehelligt aus dem Spruchkammerverfahren der Alliierten hervor. Lediglich seine Mitgliedschaft in der NSDAP seit 1934 legte man ihm schließlich zur Last. "Das Spruchkammerverfahren hat sich schriftlich glatt erledigt", frohlockte der vermeintliche Mitläufer. Schwerer bestraft wurden Künstler wie der Bildhauer Wackerle, der die Figuren am Portalvorbau der Sieberthalle gefertigt hatte. Er wurde mit Berufsverbot belegt.
Reissinger, der Künstlertyp, der so gut zeichnen konnte und Hitler schon aus diesem Grunde ganz anders ansprechen konnte, hatte sich nie unnötig mit NS-Organisationen eingelassen. Nach dem Krieg krempelte er wieder die Ärmel hoch. Das beschädigte Haus Wahnfried machte er wieder halbwegs wohnlich, wobei er viel von der alten Substanz zerstörte. 1951 entwarf er das Bühnenbild für die "Meistersinger". Und als in den 60er Jahren seine ausgebrannte Sieberthalle zur neuen Bayreuther Stadthalle werden sollte, übernahm wie selbstverständlich erneut er die Planungen. "Ich bin mit Begeisterung an das Werk gegangen, mit dem mich seit meiner Jugendzeit feine Fäden verbinden", schrieb er später. Als Knabe hatte er dort bereits Vorführungen der Bayreuther leichten Kavallerie, der Chevaulegers, gesehen. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete er sich zur Kavallerie. Und übte 1915 in der ehemaligen Reithalle den Angriff mit der Lanze.
Eigenlob für die Stadthalle
Ein halbes Jahrhundert später setzte er mit seiner zweiten Planung für Bayreuths wichtigste Halle eine Art Schlusspunkt. Und vergaß nach getanem Werk 1965 nicht das Selbstlob. "Die Synthese zwischen der Formensprache unserer heutigen Zeit und der damaligen Atmosphäre zu finden, war für mich eine ernste, verantwortungsvolle Aufgabe. Unsere Stadthalle hat dadurch eine individuelle Note bekommen, sie ist nicht vertauschbar, wie wir es bei anderen Theaterneubauten der jüngsten Gegenwart feststellen konnten."
Heute plagen sich die Bayreuther wieder mit der Stadthalle. Viele würden den Kasten eben nur zu gerne wegtauschen. Was soll man von Reissinger lassen, was wegreißen? Die hässlichen Holzverkleidungen und unpraktischen Ränge etwa? Soll die neue Stadthalle Kulturort werden oder auch für Kongresse taugen? Der alte Architekt hatte da nie einen Widerspruch gesehen. "Durch eine glanzvolle Lisztwoche der Budapester Oper wurde sie als ideale Kongresshalle weithin bekannt", hatte er schon über seine Ludwig-Sieberthalle geschrieben.