Thema Flucht: Lesung in der Studiobühne

Von Frank Piontek
Sie lasen Geschichten zum Thema "Flucht" (von links): Werner Hildenbrand, Eberhard Wagner, Nader Rezazadeh, Hans Walter Bottenbruch, Joachim Schulz, Hinrich Rehwinkel, Helga Tietz, Klaus Meile und Ulrich Tietz, Foto: Andreas Harbach Foto: red

Der Satz mag als Motto durchgehen: „Seine hohen Schultern duckten sich wie unter gefürchteten Schlägen“. Nicht ganz so viele Zuschauer und -hörer, wie sie gewöhnlich das Große Haus der Studiobühne in gut besuchten Vorstellungen empfängt, hören diese Satz aus einer Erzählung, die in einer fernen Zeit spielt: „Episode am Genfersee“ geht während des Ersten Weltkriegs vor sich.

 
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Von dem die Rede ist, ist ein nackter Mann in einem Boot: ein Russe, der keine andere Sprache als die einfache seines Heimatlandes spricht, und den „die Zeitläufte“ in die Fremde verschlagen haben, in der nur wenige Menschen ihn verstehen. Verstehen: das kann rein sprachlich und menschlich aufgefasst werden.

Texte aus zwei Jahrhunderten

„Rette sich wer darf“: unter diesem Titel haben acht Männer (darunter der Direktor, Werner Hildenbrand) und eine Frau aus dem Ensemble der Studiobühne 14 Texte aus zwei Jahrhunderten zusammengestellt. Man müsste völlig verblödet sein, um nicht in der Erzählung des frühen 20. Jahrhunderts, ja schon in Goethes Versepos „Hermann und Dorothea“ die pure Gegenwart zu entdecken. Die Geschichte der Flüchtlinge scheint in allen Ländern und Zeiten gleich zu sein: gleich grausam, sinnlos und verzweifelt. Wo der Flüchtling sich, mit dem Emigranten Max Hermann-Neiße zu sprechen, in „der Fremde Labyrinth“ befindet, tut tätige Hilfe Not. Wo der „Scheiß Krieg“ (wie in Martin Suters „Der Koch“) Familienbindungen in der „neuen Heimat“ zerstört und der Pass plötzlich „zum edelsten Teil von ’nem Menschen“ wird (wie es in Brechts berühmter wie tiefsinniger Formel aus den „Flüchtlingsgesprächen“ heißt), wird klar, dass die Literatur – besser als eine brillante Reportage – uns in die äußeren und inneren Welten der Flüchtlinge zu führen vermag: falls so etwas wie das Grauen, das beispielsweise die vietnamesischen Boat people erfahren mussten, für uns greifbar ist.

Das Amt ist wichtig

Aufklärung durch Literatur, durch Dürrenmatts gespenstischen Kabarett-Dialog „Der Gerettete“ (in dem das „Amt für Flüchtlinge“ das einzig Wichtige und der Flüchtling völlig unwichtig ist) oder durch Eberhard Wagners autobiographischen Roman „Der Dollack“: sie ist in diesen Zeiten nötiger denn je. Man müsste nur all die Flüchtlingsfeinde in die Studiobühne schicken, wo ihnen Nader Rezazadeh, der vor 30 Jahren nach traumatisierenden Erlebnissen aus Persien nach Deutschland flüchtete, in einer beklemmenden Szene zeigen könnte, was da los ist: beispielsweise in Syrien. Und alle Tränen sind rot, und alle Tränen sind blau. Was war unsere Schuld, fragte einer der vietnamesischen Flüchtlinge.

Lesen und sammeln

Wer, dies hörend, noch gegen die „armen Vertriebenen“ (O-Ton Goethe) wäre, müsste sich fragen lassen, wieso er noch auf die Straße ginge, Häuser anzünde und Menschen, die dem Tod entrannen, mit dem Tod bedrohe. Natürlich saßen in dieser politisch durchaus korrekten wie intensiv bewegenden Veranstaltung mit Hans Walter Bottenbruch, Eberhard Wagner, Klaus Meile, Joachim Schultz, Nader Rezazadeh, Hinrich Rehwinkel, Helga und Ulrich Tietz wieder nur die drin, die kaum aufgeklärt werden müssen. Der Erlös kam dem Bündnis „Bunt statt Braun“ zugute: das ist mehr als eine symbolische Geste, vergleichbar den guten Taten, die Hermann bei Goethe übte. Nicht nur lesen, sondern sammeln. Eine Fortsetzung wäre erwünscht – und nötig.