Experten: Mehr Aggression auf der Straße

Von Ulrike von Leszczynski,
Ist es Zufall, dass sich Schlagzeilen über Aggression und Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr häufen? Oder gibt es mehr Rowdys auf vier Rädern, mehr Kampfradler und pöbelnde Passanten? Foto: Jens Büttner/dpa Foto: red

Mit den ersten warmen Frühlingstagen kommen die Radfahrer. Und mit den Radfahrern wird es noch enger auf Deutschlands Straßen. Wissenschaftler und Forscher vermuten eine neue Dimension von Rücksichtslosigkeit - ist da was dran?

 
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Solche Überschriften liest man derzeit in Deutschlands Zeitungen:

Drängler machen Autobahn unsicherDrängler machen Autobahn unsicher

Ist es Zufall, dass sich Schlagzeilen über Aggression und Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr häufen? Oder gibt es mehr Rowdys auf vier Rädern, mehr Kampfradler und pöbelnde Passanten? Statistiken dazu führt in Deutschland niemand. Die Einschätzungen von Verkehrsrichtern, Psychologen und Verbänden gehen alle in eine Richtung: Ja, es ist gefährlicher geworden auf den Straßen.

«Wir leben in einer Zeit der moralischen Verrohung»

Holger Randel kann da mitreden. Zwölf Jahre lang, bis zum Ruhestand 2015, war er Hamburgs Verkehrsberufungsrichter am Landgericht. «Ich kann das nicht mit Zahlen belegen», sagt er. Aber er sehe eine Tendenz, dass die Missachtung von Regeln im Straßenverkehr zunehme - und zwar gravierend. «Ich erlebe den Straßenverkehr wie den Rest der Gesellschaft: als rücksichtsloser», ergänzt er. Menschen lebten ihren Frust auch stärker über ihr Auto aus als früher.

«Die Klagen über das Verkehrsklima nehmen zu», bestätigt Wolfgang Fastenmeier, Professor für die Psychologie des Verkehrswesens in Berlin. Untersuchungen dazu hätten immer eine subjektive Komponente, dennoch seien sie ein Indikator. Fastenmeier sieht eine Metaebene. «Wir leben in einer Zeit der moralischen Verrohung», sagt er. «Staaten und Unternehmen sind schlechte Vorbilder. Warum sollten sich dann ausgerechnet Verkehrsteilnehmer wie moralische Saubermänner verhalten?»

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Anbrüllen ist harmlos. An Kreuzungen fliegen die Fäuste. Radfahrer werden vom Drahtesel gezerrt. Radfahrer rammen Fußgänger. Jeder gegen jeden. Auf vielen Straßen wird bedrängt und geschnitten. Den Blinker zu setzen, scheint exotisch. Viele Radfahrer ignorieren rote Ampeln, als gäbe es sie gar nicht, Fußgänger sowieso.

Illegale Rennen gelten bei manchen als sportlich, selbst wenn es Tote gibt und sie im Knast enden. In Berlin ist die Stimmung so eskaliert, dass Rechtsmedizinerin Saskia Etzold die Folgen bis in die Gewaltschutzambulanz der Charité spürt. «Das geht über Rücksichtslosigkeit weit hinaus, das ist pure Gewalt. Und die Hemmschwelle sinkt», sagt sie.

Pendlerströme schwellen an

«Die Nerven liegen einfach blanker», so beschreibt es Siegfried Brockmann, Unfallforscher für Versicherungsunternehmen. Brutale Delikte seien für ihn nicht neu. Möglicherweise steige aber gar nicht ihre Zahl, sondern sie würden mehr wahrgenommen. «Vielleicht sind die Leute einfach nicht mehr bereit, das länger so hinzunehmen.»

Es gibt Gründe für den Frust: Die Infrastruktur in Städten hält dem Verkehr kaum noch stand. Steigende Mieten drängen Menschen aus den Metropolen ins Umland - damit schwellen Pendlerströme weiter an. Online-Bestellungen befeuern den Lieferverkehr, Billig-Bus-Flotten werben der Bahn Kunden ab.

723.000 Staus im Jahr 2017

Im Januar 2018 gab das Kraftfahrt-Bundesamt den Fahrzeugbestand auf Deutschlands Straßen mit 63,7 Millionen an - rund 1,1 Millionen mehr als zum vorigen Stichtag. Dazu zählt alles vom Laster über den Kleinwagen bis zum Motorrad und Anhänger.

2013 legten Fahrzeuge 705 Milliarden Kilometer im Jahr zurück, im Jahr 2016 erreichte «die jährliche Gesamtfahrleistung der in Deutschland zugelassenen Kraftfahrzeuge» 725,8 Milliarden Kilometer. 2017 meldete der ADAC eine Rekordzahl von 723.000 Staus. Im Durchschnitt bildete sich jeden Tag eine Blechlawine von knapp 4000 Kilometern.

Mehr Möglichkeiten für aggressives Fahren

Und noch mehr Zahlen: So starben nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamts im vergangenen Jahr 3186 Menschen bei Verkehrsunfällen auf deutschen Straßen. Das sei der niedrigste Stand seit Beginn der Statistik im Jahr 1953. Die Gesamtzahl der Unfälle erreichte 2017 dagegen einen Höchststand, die Polizei nahm rund 2,6 Millionen Unfälle auf.

Umweltpolitisch gewollt fahren auch immer mehr Bundesbürger Fahrrad. E-Bikes erhöhen das Tempo. Selbst auf neuen, breiten Radwegen wird es ungemütlicher. Dazu kommt immer modernere Technik beim Auto: Auch erschwingliche Modelle beschleunigen innerhalb weniger Sekunden auf mehr als 100 Stundenkilometer. Viele Autos wiegen fast zwei Tonnen. Ex-Richter Randel hat nichts gegen schnelles Fahren, wo es möglich und erlaubt ist. Aber die Technik lässt für ihn neben Imponiergehabe auch viel mehr Möglichkeiten zu für aggressives Fahren - bis hin zur Gewalt. Eine Art Panzer-Gefühl.

Raserei ist häufiger eine Unfallursache

«Es gibt nicht den typischen Verkehrsrowdy. Das geht durch alle Bevölkerungsschichten und alle Ethnien», sagt Randel. Junge seien häufiger Täter als Ältere. Frauen verhielten sich im Straßenverkehr oft rühmlicher als Männer, aber seit rund 15 Jahren führen auch sie rücksichtsloser. Es gehe nicht allein gegen aggressive Männer am Steuer - auch gegen andere Frauen.

Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat bereitet gerade eine Broschüre mit dem Titel «Emotionen im Straßenverkehr» vor. Aggressionen sind ein Thema. Die Polizei, Fahrschulen - sie alle signalisierten dem Verband, dass die Rücksichtslosigkeit zunehme, sagt Sprecherin Julia Fohmann. Belegt sei, dass überhöhte Geschwindigkeit heute häufiger Unfallursache sei als früher. «Ob dahinter aber ein besonders aggressives Verhalten steht, ist schwer nachzuweisen», ergänzt sie.

Auf schwächere Verkehrsteilnehmer Rücksicht nehmen

In Berlin versucht es die Polizei auch mit Prävention. Mitte April twittert sie das Foto eines Kinderrads, das zerquetscht unter dem Vorderreifen eines Autos liegt. «Wir könnten Ihnen an dieser Stelle etwas über ein Kinderfahrrad erzählen oder über ein Auto, das nicht Vorfahrt hatte», heißt es im Internet. «Stattdessen möchten wir Sie an etwas erinnern, etwas, das im täglichen Großstadtverkehr, in Hast und Eile und manchmal auch durch Frust oder Ablenkung in Vergessenheit gerät: Der Straßenverkehr ist gefährlich. Und er ist lebensgefährlich ohne Knautschzone.» Fahren, das verlange volle Aufmerksamkeit und auch, bewusst auf schwächere Verkehrsteilnehmer Rücksicht zu nehmen. «Der kleine Radler hatte Glück, er wurde nur leicht verletzt.»

Prävention - die wünscht sich Forscher Fastenmeier auch für Fahrschulen. Eine Art Pflicht-Training für soziale Kompetenz. «Es geht darum, immer auch die Perspektive anderer Verkehrsteilnehmer wahrzunehmen», sagt er. Österreich habe das Training erfolgreich eingeführt - leider bisher nur nach Verstößen. «In Deutschland läuft diese Diskussion seit Jahrzehnten, aber nichts passiert», kritisiert er.

Für einen Moment Egoist sein

Zu Rüdiger Born im Hamburg kommen viele, die ihren Führerschein verspielten - oder sie haben andere Gründe wie ein laufendes Strafverfahren nach einem Verkehrsdelikt. Born ist Verkehrspsychologe und teilt seine Klienten beim Thema Aggressivität im Straßenverkehr in zwei große Gruppen ein: «Die einen sind emotional erregt. Und dann geht irgendwas so mit ihnen durch, dass sie zum Beispiel anfangen, richtig aufs Gas zu gehen und zu drängeln.» Impulsdurchbruch nennt Born das.

Bei der anderen Gruppe hat Aggressivität für ihn psychologisch gesehen von Anfang an etwas mit dem bewussten Schädigen von anderen zu tun. «Da schneidet dann jemand mit völlig neutralen Gefühlen anderen den Weg ab oder nimmt einem anderen den Parkplatz weg. Weil er - mal ganz unpsychologisch gesprochen - in dem Moment ein Egoist ist», ergänzt er.

Mit schlechter Grundstimmung unterwegs

Etwa 10.000 Menschen im Jahr bekämen acht Punkte in Flensburg voll und würden damit ihren Führerschein los, sagt Born. Er begrüßt das. «Es gibt Untersuchungen, dass gerade sie besonders viele Unfälle verursachen.» Es gebe sogar eine Korrelation zwischen Auffälligkeiten im Straßenverkehr und sonstiger Kriminalität.

Und wie therapieren Psychologen Verkehrsrowdys? «Wir schauen: Wie ist es ihnen gegangen an diesem Tag? Wie sind sie an diese Kreuzung gekommen?», beschreibt Born eine Sitzung. «Und oft kommen dabei Eskalationsgeschichten heraus. Da war jemand schon mit einer schlechten Grundstimmung unterwegs, bevor etwas passierte.»

Der andere, das ist ein Störfaktor

Born gibt Verhaltenstipps. «Wenn ich mich gerade mit meinem Ehepartner gezofft habe, sollte ich nicht gleich ins Auto steigen. Und wenn ich mich angurte, dann prüfe ich meine Stimmung, ob die wirklich zum Fahren gut ist.» Das Gefühl, sich entladen zu müssen - das sei reine Gewöhnung. «Man ist nicht automatisch ein Dampfkessel. Und viele wünschen sich selber, dass sie cool bleiben können.»

Ein Grundbedürfnis können auch Psychologen Verkehrsteilnehmern nicht abtrainieren: Die meisten wollen auf direktem Weg von A nach B, möglichst schnell und möglichst sicher. Dabei werden sie automatisch zu Rivalen. Der andere, das ist ein Störfaktor - und niemand, den man lieb hat. Mit immer mehr Verkehr steigen die Chancen, beim eigenen Vorwärtsstreben geärgert und frustriert zu werden, sagt Unfallforscher Brockmann.

Ein Volk der Rechthaber?

Was fehlt, sind für den langjährigen Richter Randel nicht die Gesetze. Es fehlt an ihrer erschöpfenden Anwendung. «Niemand will es hören, aber alle Behörden sind unterbesetzt. Das beginnt bei der Polizei, geht weiter über die Staatsanwaltschaft bis zu den Gerichten», sagt er. «Die Anzeigehäufigkeit und die Verfolgungshäufigkeit können nicht mehr den Fakten auf der Straße entsprechen.»

Ist diese Form von Aggression ein typisch deutsches Phänomen? Randel überlegt. «Vielleicht», sagt er schließlich. «Weil wir ein Volk der Rechthaber zu sein scheinen. So viele Rechthaber wie bei uns erlebe ich selten in der Welt, privat und als Jurist.»

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