Zum letzten Mal: Großer Jubel für Stefan Herheims „Parsifal“ Die Summe aller Fragen geteilt durch Erlösung

Florian Zinnecker
 Foto: red

Der Vorhang schließt sich, es vergehen ein paar Sekunden, bis der Jubel losbricht, und man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Vielleicht gleich mit der schwersten Frage: worum es geht, in der „Parsifal“-Inszenierung Stefan Herheims, und warum sie die beste ist, die seit Jahren in Bayreuth zu sehen war. Man kann an dieser Frage nur scheitern, aber wenn man erst an diesem Punkt angelangt ist, steckt man schon mittendrin.

 
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Denn es ist einer der zentralen Punkte dieser „Parsifal“-Inszenierung, dass sich Menschen an genau diesem Werk begeistern. Dieser „Parsifal“ erzählt die Wirkungsgeschichte des „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen – und daran ein zentrales Kapitel deutscher Geschichte.

Grundlage ist die an sich schon rätselhafte Handlung. Die dreht sich im Wesentlichen um eine Wunde, die nur heilen kann, wenn der Speer sie berührt, der sie geschlagen hat. Es geht um Schuld, Erlösung, Begehren, Verführung und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, es sind die ganz, ganz großen Themen.

Und Stefan Herheim macht an dieser Stelle gleich mehrere Dinge richtig: Er stellt sich den Fragen, ohne zu behaupten, er habe eine Antwort (die Inszenierungen, die behaupten, eine Antwort zu geben, sind meistens nicht die besten, man muss da nur auf die Eröffnungspremiere dieses oder des vergangenen Jahres schauen). Er gibt die Fragen an das Publikum weiter, ohne vorher eine Auswahl zu treffen und die vielen Dimensionen auf eine einzelne Fahrspur zu reduzieren.

Er findet einen Erzählrahmen, der mit diesen Fragen nicht überfrachtet ist: die Entwicklung Deutschlands von 1871 bis irgendwann in den 1970ern, vom Deutschen Reich bis hinein in die Bundesrepublik. Und er schafft es, in die bis hierhin schon überkomplexe Geschichte noch mehr ganz, ganz große Themen hineinzuschreiben (Identität, Geburt und Tod, Traum und Wirklichkeit, Krieg und Frieden), ohne dass man als Zuschauer den Faden oder die Lust verliert. Im Gegenteil: Man ist, natürlich, sofort überfordert. Aber alles ergibt Sinn, auf eine merkwürdig angenehme Weise. Man möchte sich auch nach dem letzten Ton unbedingt weiter damit befassen (auch deshalb reden bei „Parsifal“-Aufführungen die Zuschauer in den Pausen nicht mehr ausschließlich über ihr Abendessen, sondern in der Tat über „Parsifal“). Und zugleich ist man in so außerordentlichem Maß ergriffen, weil das alles – die Handlung, die Deutung, das Bühnenbild, die Musik – anrührt, und berührt an einem Punkt, der nur sehr, sehr selten berührt wird. Auch im Theater, gerade im Theater. Wenn das, was Stefan Herheim mit dieser Produktion sagen will, in ein paar Sätzen sagbar wäre, dann hätte er es in ein paar Sätzen gesagt.

Zweieinhalb Akte lang spielt die Handlung in Haus Wahnfried: im Garten, am Grabe Richard Wagners und im Saal, vielleicht steckt eine Unzahl anderer Schauplätze dahinter, vielleicht aber auch nicht: Die Kapitel deutscher Geschichte, um die sich dieser Abend dreht, lassen sich gut an Haus Wahnfried erzählen. Die zweite Hälfte des dritten Aktes spielt dann im Bonner Bundestag, das ist ein Bruch, aber wahrscheinlich muss er sein: Wahnfried spielt(e) dann erst einmal keine Rolle mehr.

Im Bühnenbild (Bühne: Heike Scheele) taucht die Festspielhaus-Bühne selbst immer wieder als Zitat auf – als grüner, sich aus der Mitte heraus öffnender Vorhang samt Bühnenportal. Stefan Herheim gelingt es dadurch, das Stück für sich ernst zu nehmen – und sich zugleich immer wieder davon zu distanzieren.

Das Bühnenbild und die Kostüme (Kostümbild: Gesine Völlm) schonen den Apparat, die Werkstätten und die Maschinerie nicht, natürlich kann man ihnen vorwerfen, sie seien kitschig – aber der Vorwurf lässt sich nicht halten, denn das alles, jedes Detail, bedeutet ja etwas, die Außenansicht von Haus Wahnfried, der Kamin, auch der rosa leuchtende Gral, auch die Steinmauer auf dem Wagnergrab, auch der zitierte Gralstempel, der im Jahr 1882 auf der Bühne aufgebaut war, als es galt, den „Parsifal“ zu spielen.

Und deshalb ist diese „Parsifal“-Inszenierung nicht nur eine „Parsifal“-Inszenierung, sondern ein wunderbares Plädoyer dafür, komplizierte Dinge nicht um jeden Preis zu vereinfachen, man könnte auch sagen: schlicht zu lügen. Sie ist ein Plädoyer dafür, dass man an seinen Aufgaben auch wachsen kann, dass es sich lohnt, sich einer Herausforderung zu stellen, dass es sich lohnt, sich lange mit ein- und derselben Sache zu befassen. Diese Inszenierung zeigt wie nicht viele andere, dass Inszenierungen nicht nur Mittel sind, um ein Kunstwerk – die Oper – zu seinem Publikum zu transportieren, sie können auch selbst Kunstwerk sein. Dann, wenn – wie hier – alles mit allem zusammenhängt und ein Rädchen ins andere greift.

Und natürlich würde man nun gern feststellen, dass das alles auch noch im fünften Jahr uneingeschränkt der Fall ist, aber: Das wäre, leider, gelogen.

Die Verwandlungen funktionieren auch in diesem Jahr, das ist deshalb der Rede wert, weil Herheim aus Gründen, die manche als klimatische Verstimmung, andere als arbeitsrechtliche Verwerfung bezeichnen, mit einer völlig neuen Mannschaft an Bühnenmeistern arbeiten musste. Was in einem Bühnenbild, das beinahe ständig in Bewegung ist, fatal sein kann, zumal dann, wenn die Bewegungen auch noch unmerklich und streng aus der Musik begründet sind.

So musikalisch wie zuvor sind die Umbauten in diesem Jahr lange nicht – es kracht und ruckelt, die Maschinerie bringt sich selbst in Erinnerung, und das zerstört ein Gutteil der Wirkung, die hier doch so viel ausmacht. Natürlich, es geht auch so, aber: In einem so sehr auf Perfektion ausgerichteten Gesamtkunstwerk fällt es auf, negativ.

Thomas Jesatko als Klingsor und Detlef Roth als Amfortas singen und agieren eindrucksvoll und tongenau. Kwangchul Youn, als Gurnemanz bewährt, hat auch heute einen guten Abend – es ist beeindruckend, wie mühelos, wie gut verständlich und mit welchem Volumen ihm diese gewaltige Partie gelingt.

Burkhard Fritz kann da nicht mithalten, seinem Parsifal fehlt Stimmvolumen – was er in der Finalszene, leider vergeblich, mit Kraft und Lautstärke auszugleichen versucht. Susan Maclean als Kundry geht es nicht viel besser, bei ihr leidet vor allem die Verständlichkeit – so dass sich in den Applaus der beiden auch ein paar Buhs mischen.

Richard Wagner hat über die ersten Takte seines „Parsifal“ die Spielanweisung „Sehr langsam“ geschrieben, mit dem Zusatz: „Sehr ausdrucksvoll“. Dirigent Philippe Jordan nimmt sich diese Angaben hörbar zu Herzen und dirigiert einen im besten Sinne bescheidenen, vor allem am Ende fast zurückhaltenden „Parsifal“. Ihm geht es nicht um dicken Wagnerklang, nicht um Pathos, sondern um Schlankheit, Farbe, Gefühl – auch andere als Ergriffenheit durch reine Wucht. Und auch das funktioniert.

Diese Premiere war – definitiv – die letzte dieser Produktion, sie wird nach der Aufführung am 28. August vom Spielplan genommen. Eine Produktion, die ganz anders war als die vorhergehende „Parsifal“-Produktion von Christoph Schlingensief, und – aller Voraussicht nach – auch als die zu erwartende Deutung von Jonathan Meese ab 2016. Und auch anders als alle anderen.

Es war – es ist – ein Ausnahme-Ereignis.

Foto: dpa