Sie sehen Freunde sterben: Süchtige erzählen Alkohol: Das Leben rauscht vorbei

Von Luisa Degenhardt
Das Leben rauscht an den Süchtigen manchmal vorbei. Betroffene erzählen. Foto: Luisa Degenhardt Foto: red

An diesem Tag ist der Winter in die Marktgemeinde zurückgekehrt. Während draußen die Schneeflocken fallen, sitzt Werner J. (Name geändert), ein hagerer Mann mit rauer Stimme, um die 1,70 Meter groß, im Aufenthaltsraum des Hauses Königstein und erzählt. Von seinem Leben und seiner Sucht, die lange Zeit sein Leben war.

 
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Mittlerweile wohnt Werner J. seit vielen Jahren hier. Die Entscheidung, endgültig vom Alkohol loszukommen, fällt er im Jahr 2001. An diesem Tag hat er getrunken, wie an jedem anderen auch. Abends, in seinem Zimmer bei der Heilsarmee in Nürnberg, hört er Stimmen, sieht schwarze Gestalten, ist „gewaltig im Delirium“. Er will sich umbringen, schneidet sich seinen kleinen Zeh ab, weil ihn die Stimmen dazu zwingen. Polizei, Feuerwehr und Sanitäter kommen, er wird in eine Nürnberger Klinik gebracht. Der Zeh bleibt verschwunden, Werner J. hat ihn aus dem Fenster geworfen. Werner J. wurde schon früh alkoholabhängig. Mit 15, als er Fußball gespielt hat, war es normal, nach den Spielen zu trinken. „Das hat sich durchgezogen“, sagt der 72-Jährige. Das Feierabendbier wurde obligatorisch. Er wurde obdachlos, zog durch ganz Deutschland. Was im Sommer kein Problem war, weil er ein Zelt dabei hatte. Er hat versucht, vom Alkohol loszukommen. Einmal, zweimal, vergeblich.

Auch psychische Erkrankungen

In der Klinik rät man ihm, etwas zu unternehmen. Das war vor 15 Jahren. „Ich bin jetzt so lange da. Ich hab was gemacht für mich, mehr kann ich nicht machen.“ Wenn Werner J. von seiner Krankheit erzählt, spricht er ruhig und bestimmt. Viele Bewohner hier sind nicht nur süchtig, sondern haben auch psychische Erkrankungen.

Doris Rhea, Einrichtungsleiterin im Haus Königstein, erzählt, dass Werner J. sich gut macht. Dass er stabil ist. Die meisten, die hier sind, sind es wegen des Alkohols. 32 Männer und eine Frau.

Frauen gehen anders mit dem Thema Sucht um. Weil Frauen länger von ihren Familien aufgefangen werden, sagt Rhea. Und, weil suchtkranke Frauen noch mehr stigmatisiert werden als Männer. „Eine Frau verheimlicht das viel mehr. Bis es nicht mehr geht“, sagt Doris Rhea. Frauen haben weniger Leberenzyme. Alkohol, Medikamente und Drogen kann die Leber eines Mannes besser abbauen, als das Organ einer Frau. Die Folge: „Frauen erleben schneller gravierende gesundheitliche Schäden als Männer.“ Die Patienten, die kommen, kommen oft, weil Justiz oder Familie Druck machen. Die empfohlene Aufenthaltsdauer liegt bei einem Jahr. Manche Bewohner bleiben für immer. Weil die Gefahr eines Rückfalls in der Normalität zu groß wäre. Der älteste Bewohner ist 77 und seit 21 Jahren hier. Der jüngste 25.

Augen starren ins Leere

Tim Z. (Name geändert) ist 34 und erst seit einem Monat im Haus Königstein, das der Deutsche Orden betreibt. Er ist heroinabhängig. Glatze, Augen, die ins Leere starren. Wenn er erzählt, faltet er die Hände, als bräuchte er etwas zum Festhalten. Zuerst hat er gekifft, mit 16 Jahren Crystal, Speed, Ecstasy und LSD genommen, schließlich Heroin. Er hat sich entschlossen, eine Therapie zu machen, weil eine Freundin neben ihm im Bett gestorben ist. Sie war 25, ebenfalls heroinabhängig und als er aufwachte, war sie graublau.

Das war an seinem Geburtstag, im Oktober. Viele seiner Freunde sind an den Drogen gestorben. Er wollte nicht der Nächste sein.

Doch die Rückfallquote ist hoch: 90 Prozent derer, die das Haus Königstein verlassen, kommen wieder. „Die Zahlen sind entmutigend“, sagt Doris Rhea. Es seien vor allem die Einsamkeit und die Langeweile, die einen Rückfall auslösen. Vielen Suchtkranke fehlt eine Familie. So auch Tim Z. Er hat keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter und seinem Bruder. „Die konnten einfach nicht verstehen, warum ich Drogen nehme.“ Zu seinem Vater hat er noch Kontakt.

Geregelter Tagesablauf ist nötig

Auch Werner J. hat niemanden. Der 72-Jährige ist gelernter Schlosser. Im Haus Königstein gibt es eine Schlosserei, dort arbeitet er. Neben der Schlosserei gibt es eine Schreinerei, eine Möbelrestauration und eine Kreativwerkstatt. Ein geregelter Tagesablauf ist nötig, um den Suchtkranken Halt zu geben. Ergänzend zur Arbeitstherapie bietet das Haus therapeutische Angebote. Die offene Einrichtung gibt es seit 1994. Offen bedeutet, dass niemand bleiben muss. Die Bewohner dürfen auf eigene Faust losziehen. Tim Z. hatte am 9. Februar zum ersten Mal Ausgang. Er ist in den Supermarkt nach Königstein gegangen. Weiter weg darf er noch nicht. Sucht ist eine Krankheit, die alle Gesellschaftsschichten trifft. Im Haus Königstein lebten Notärzte, Akademiker, Menschen ohne Ausbildung. Sie bleiben so lange hier, bis sie wieder auf eigenen Beinen stehen können.

Werner J. scheint das geschafft zu haben. Bis Ostern will er entscheiden, ob er auszieht. Er will alleine wohnen, ohne Betreuung. „Man will das ja selber in den Griff kriegen“, sagt er. Ein Rückfall wäre für ihn eine Katastrophe. Doch er weiß: „Das kann jedem passieren. Ich bin aber nicht jeder.“ Laut Doris Rhea sei das Umfeld das Problem. Wer zurück ins Obdachlosenheim geht, habe keine Chance trocken zu bleiben. Die Ursache für eine Sucht sieht sie auch in der Gesellschaft. Die Erwartungen an die Menschen seien so hoch, vor allem in der Arbeitswelt. „Es gibt Menschen, die diese Belastungen nicht aushalten.“

Ins betreute Wohnen gehen

Werner J. will schon allein aus Stolz nicht rückfällig werden. Was würden die anderen Bewohner sagen, wenn er wiederkäme? Vielleicht geht er nach Stuttgart, sagt er. Vielleicht reist er durch Deutschland, sagt er. Die Geschehnisse in jener schicksalhaften Nacht habe er nicht verdrängt, aber „es ist vorbei“. Er sagt das so, als sei er wirklich davon überzeugt.

Tim Z. dagegen wird auf unbestimmte Zeit in Königstein bleiben. Wenn er irgendwann hier rauskommt, will er ins betreute Wohnen, auf keinen Fall aber nach Nürnberg, wo er fester Bestandteil der Drogenszene war. Seinen Konsum finanzierte er sich mit dem Dealen.

Doch einfach so kommt Tim Z. nicht von den Drogen weg, nicht nach all den Jahren. Nicht nach all dem, was er genommen hat. Er ist auf Methadon, ein Heroinersatzstoff. Sein starrer Blick und seine glasigen Augen sind Nebenwirkungen des Stoffs, der sein Verlangen nach Heroin unterdrückt. Tim Z. ist motiviert, im dritten Anlauf clean zu werden. Er ist glücklich, dass er im Haus Königstein einen Platz bekommen hat. Hätte das nicht geklappt, „wäre ich bestimmt schon tot“.