DAAD-Mitarbeiterin berichtet aus erster Hand Alltag in Afghanistan: So ist es wirklich

Von Philip Ziegler
Häftlinge der Taliban, im September in Kundus entlassen. Archivfoto: AFP Foto: red

Junge Afghanen träumen nicht vom Dschihad, sondern von einem stahlharten Sixpack – Religionswissenschaftlerin Katharina Fleckenstein zeichnet das Bild einer frustrierten Gesellschaft, die vor ihren Problemen flüchtet. Bei einem Vortrag in Bayreuth vergangene Woche sprach sie über ihre Arbeit in Afghanistan und verriet, warum sie dieses „wunderschöne Land“ trotz Korruption und Terrorismus nicht aufgibt.

 
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Für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) sucht Fleckenstein in Kabul und Masar-e Scharif Stipendiaten aus und organisiert die Zusammenarbeit mit den Universitäten. Schon während des Studiums spezialisierte sie sich auf das Thema Islam in Südasien. Beim Vortrag auf Einladung des Evangelsichen Bildungswerks sprach sie über verschiedene Aspekte ihres Alltags als Frau in Afghanistan. Sechs Stichworte zur aktuellen Situation in Afghanistan:

Fundamentalismus

99 Prozent der Afghanen sind Muslime. „Mit Afghanistan wird seit 30 Jahren nur der Islamismus verbunden“, sagt Fleckenstein. Doch: „Das Thema Glauben ist in alltäglichen Gesprächen nicht so präsent, wie man es denken mag.“ Die gebildete Schicht des Landes stehe dem Islam durchaus kritisch gegenüber.

„Der Campus der Uni-Kabul ist ein Refugium“, sagt sie. Allerdings formen Studenten der Scharia-Fakultät neuerdings eine Art Scharia-Polizei, die Frauen auffordert, ein Kopftuch zu tragen. Viele Studentinnen blieben davon unbeeindruckt.

„Für den Fanatismus ist nicht der Islam verantwortlich, sondern die Frustration in der Gesellschaft“, sagt Fleckenstein.

Soziale Probleme

Das Land kämpfe mit vielen Probleme: Korruption bestimmt die Verwaltung, die Bevölkerung wächst rasant, und die Schulabgänger konkurrieren um wenige Studienplätze. Viele Afghanen fürchten um ihre gesellschaftliche Position. Junge Männer stehen unter dem Druck zu heiraten - was keine günstige Angelegenheit ist, weil zu Hochzeiten traditionell mehrere tausend Gäste erwartet werden.

Sicherheit

Kaum ein Haus ohne Stacheldraht, Betonpflaster soweit das Auge reicht, Sicherheitskräfte an jeder Ecke - das bedrückt, sagt Fleckenstein. Seit einem Anschlag in Kabul Anfang August sei der DAAD besonders vorsichtig. Alleine darf Fleckenstein nicht vor die Tür. „Selbst für kurze Strecken muss ich am Tag vorher einen gepanzerten Wagen mit Fahrer bestellen.“

"Die Bevölkerung ist durch und durch traumatisiert. Viele Afghanen leiden unter Kopfschmerzen und Konzentrationsschwäche", sagt Fleckenstein. Sie selbst habe keine Angst. "Aber in manchen Nächten schrecke ich bei jeder Katze oder jedem knackenden Ast auf", sagt sie. Ihr Onkel Hermann Riedel erzählt nach dem Vortrag: "Wir telefonieren fast jeden Abend. Wir machen uns große Sorgen." Nach spätestens zwölf Wochen schickt der DAAD seine Leute für eine Weile zurück nach Deutschland.

Demokratische Werte gehen nicht einher mit Sicherheit, stellt Fleckenstein fest. In Masar-e Scharif verwehrt ein Regionalgouverneur den Mullahs die Meinungsfreiheit und gibt ihnen vor, was sie predigen sollen. Durch die extreme Reichweite der Mullahs habe die Regierung so die Kontrolle. Die Gesellschaft in der Stadt sei stabiler, sagt Fleckenstein. „Wenn ich nach Masar-e Scharif fahre, fühle ich mich gleich sicherer.“

Pop-Kultur

Die Afghanen flüchten sich in die Pop-Kultur: Ganz groß im Trend sind Bollywood Filme - schrill, bunt, mit Happy End. Zwischen Tanz und Hochzeiten entkommen die Afghanen ihrem Alltag. Millionen schalten bei Afghan-Star, einer Castingshow für Sänger, ein. Auch Fitness-Studios boomen, erzählt Fleckenstein. Junge Männer träumen davon, Mr. Afghanistan zu werden. In Kabul öffnen auch erste Studios für Frauen.

Frauenrechte

Unter dem Taliban-Regime wurden Frauen massiv unterdrückt. Das sei nach wie vor in den Köpfen verankert, stellt Fleckenstein fest. Sie erzählt von einem Spiel mit Studenten, bei dem es darum ging, Begriffe zu erraten. Eine Studentin beschrieb das Wort Kino mit den Worten: "In Afghanistan gehen Frauen nicht in..." Die erste Antwort: "...die Schule." 

Andererseits seien 38 Prozent der Studierenden Frauen. Außerdem würden Frauen erstmals für ihre Rechte demonstrieren. Nachdem eine Frau aus Kabul einem Mullah widersprochen hatte, behauptete dieser, die Frau habe einen Koran verbrannt. Ein Lynchmob schlug die Frau nieder und verbrannte sie vor den Augen der Polizei. Auf Straßen im ganzen Land protestierten tausende Frauen.

Hoffnung

Trotz aller Probleme will sie das "wunderschöne Land" nicht aufgeben. Das Engagement Einzelner lasse sie hoffen. "NGOs bringen dort ohne großes Budget ganze Dörfer auf Vordermann, und wir in Deutschland sind mit einer Million Flüchtlingen überfordert", sagt sie. "Solange der politische Islamismus noch nicht im Alltag angekommen ist, kann das Land wieder auf die rechte Bahn zurück finden. Nicht in den nächsten zehn Jahren, aber langfristig."

Fleckenstein studierte Religionswissenschaft in Erfurt und arbeitet seit 2009 für den Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD). In Kabul und Masar-e Scharif betreut sie ein Projekt, das die Bergbauindustrie in dem Lithium-reichen Land aufbauen soll. Es mangele nicht an Bodenschätzen, sondern an Fachpersonal, sagt Fleckenstein. Der DAAD will das Land so wirtschaftlich auf Vordermann bringen.