Alexander Kluge: „Erzähler sind Zuhörer“

Von Michael Weiser
Alexander Kluge: Der Georg-Büchner-Preisträger spricht am Sonntag in Bayreuth. Foto: dpa Foto: red

An der Uni in Bayreuth geht es in den nächsten Tagen ums Erzählen: Der Deutschlandtag der Germanisten wird am Sonntagabend im Audimax eröffnet, mit einem Vortrag von Alexander Kluge (84). Wir sprachen mit dem Büchner-Preis-gekrönten  Filmemacher, Schriftsteller, Drehbuchautor und Jurist über die Kunst des Erzählens. Und er sagte uns, was der Erzähler Homer heutigen Nachrichtensendungen voraus hat, warum Gefühl und Sachlichkeit kein Widerspruch sind und warum manche Geschichten Millionen von Jahren dauern können.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Sie schätzen Homer...
Alexander Kluge: Ja, sogar sehr.

Was gefällt Ihnen am ersten und ältesten aller Erzähler, die wir kennen?
Kluge: Eine Nachricht wird bei Homer von Sängern überbracht. Und das ist doch toll. Haben Sie jemals eine Tagesschau mit Musik erlebt?

"Uns fehlt die Verbindung von Nachricht und Emotion"

Nur zur Begrüßung.
Kluge: Und dann nicht mehr. Sehen Sie, uns fehlt diese Verbindung von Nachricht und Emotion.

Was uns bei einer Nachricht auch irritieren könnte. Sollen Informationen nicht sachlich sein?
Kluge: Das Gefühl ist auch sachlich, Musik ist sachlich. Es ist auch Information. Es ist doch so, dass wir Menschen zwar Tatsachen sehr wohl wahrnehmen, aber trotzdem träumen. Wenn beides zusammenkommt, dann nennt man das Phantasie.

Was man auch nicht so ohne weiteres mit einer Nachrichtensendung verbindet...
Kluge: Aber Menschen bestehen doch nicht ausschließlich nur aus Fakten, die funktionieren nicht so. Die haben Gefühle und können doch auch sachlich sein. Der Wolf hat sein Gebiss, und mit dem schnappt der nach der Kehle seines Beutetiers. Das gehört zu ihm, das ist seine Natur. Nun sind Menschen keine Wölfe. Sie haben Empathie, können sich in andere Menschen hineinversetzen und doch auch sachlich sein. Das ist wiederum Teil unserer Natur, ist sozusagen unser Gebiss.

"Unsere Zeitgeschichte ist reich"

Kommen wir auf Homer zurück. Bei aller Wertschätzung haben Sie einmal gesagt: „Zeitgeschichte ist besser als Homer“:
Kluge: Unsere Zeitgeschichte ist reicher. So sehr ich ihn liebe, so sehr drängt das, was wir heute erleben. Wenn Sie die Flüchtlinge über die Grenze kommen sehen, kommt mit ihnen Nachricht von Syrien, einem der ältesten Länder der Welt, zusammen mit Mesopotamien die Wiege der Menschheit. Buchhaltung, Sternendeutung, Philosophie – all das ist in Städten wie Aleppo oder Uruk entstanden – das sind Geschichten! Es ist schrecklich, wenn wir nur den Islamischen Staat wahrnehmen können. Ich habe mit einer Archäologin ein Interview geführt, sie hatte in Rakka gearbeitet, bei Grabungen in einer Schicht, 3000 Jahre von uns entfernt. Das hat wahrlich Tiefe. Die ganze Erde erzählt uns etwas. Die Kontinente wandern, und auf einmal gibt es ein Erdbeben in Nepal.

Jetzt haben wir uns aber von Troja aus ganz schnell übers Zweistromland bis nach Nepal bewegt.
Kluge: Also, die indische Platte ist vor vielen Millionen Jahren östlich von San Francisco gestartet, und dann rammt sie die Eurasische Platte, und es gibt Tote und Verletzte. Da macht sich die Archäologin auf den Weg, von Nordrheinwestfalen aus, mit einem Suchhund und einem Gefährten. Sie möchte Menschen retten, aber sie finden niemanden. Nun fliegen die beiden schon wieder zurück, sind frustriert, können einander gar nicht mehr recht leiden. Da erhält Indien noch einen Rammstoß, es gibt wieder ein Erdbeben, erneut Verletzte, und sie fliegen zurück, und nun finden sie Menschen unter den Trümmern. Und in der Nacht empfängt sie ein Kind, einen neuen Erdbürger.

Die Geschichte erstreckt sich über 250 Millionen Jahre

Ein weiter Bogen...
Kluge: Das ist eine Geschichte, die erstreckt sich über 250 Millionen Jahre. Als Erzähler kann man da Zusammenhang herstellen, zwischen Verstand und Gefühl, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zur Orientierung in unserer Gegenwart. Wenn man bloß Informationen aufzählt, geht das nicht auf. Ich bin Jurist. Und wenn ich einen Schriftsatz für das Gericht vorbereite – dann ist das nur sachlich, nur informativ. Da wäre jede poetische Wendung falsch. Aber: Wenn eine Mutter mit ihrem Kind spricht – dann geht es poetisch zu. Wenn man etwas erzählen will, braucht man beides.

Sie sind Filmemacher und Buchautor. Wenn es um das Erzählen geht, wer kann von wem am meisten lernen, der Schreiber vom Filmemacher, oder umgekehrt?
Kluge: Wenn ich Filme mache, dann mache ich das so ähnlich als wenn ich ein Buch schreibe. Und wenn ich ein Buch mache, stelle ich mir im Kopf einen Film vor. Das ist also verwandt. Beim Buch habe ich das Problem, dass sich nichts bewegt. Aber Bücher sind zuverlässig. Über einen Abstand von 2000 Jahren kann ich heute noch Ovids „Metamorphosen“ lesen. Bücher sind Schiffe, und zwar Schiffe, die verlässlich sind.

"Erzähler sollen die Ich-Schwelle senken"

Ovid und Homer – was mögen Sie außer den Nachrichtensängern noch an diesen Autoren? Was können wir von ihnen lernen?
Kluge: Die prägnante Kürze. Das ist wirklich großartig. Und große Kunst.

Ich kann's nicht, versage regelmäßig daran. Vielleicht, weil ich selbstverliebt bin. Gibt es für Erzähler eine schlimmere Sünde?

Kluge: Erzähler sollten ihre Ich-Schwelle senken. Sie sind Zuhörer, schreiben Protokolle.

Keine Erfinder?
Kluge: Im Gegenteil. Sie sind Gärtner. Wenn Pflanzen sprechen könnten, wären sie summende Gärten. Wir Menschen sind sprechende Pflanzen.

Die Tätigkeit von Philologen, von Germanisten zu vermitteln, dürfte da schwierig sein: Wissenschaftler, die sich auf trockene Weise mit so etwas zauberhaft Lebendigem wie Sprache befassen...
Kluge: Das kann man so nicht sagen. Philologie ist poetisch. Am Anfang der Germanistik stehen die Gebrüder Grimm. Ich finde, die Gebrüder Grimm waren Sammler und Archäologen, Ausgräber der deutschen Sprache. Und die haben auch Märchen gesammelt. Wir verdanken ihnen viel.

Es sind noch einige Kollegen in den nächsten Tagen in Bayreuth, zum Beispiel Felicitas Hoppe...
Kluge: Die ich sehr verehre.

Werden Sie ein bisschen dableiben, um zu plaudern?
Kluge: Ich werde es versuchen, muss aber irgendwann wieder nach Hause, etwas arbeiten.

Kluge dreht immer noch Filme

An was arbeiten Sie denn im Moment?
Kluge: Ich mache Filme, zum Beispiel zusammen mit Anselm Kiefer. Einen dieser Filme werde ich am Sonntag auch vorführen. Also, zusammen mit Anselm Kiefer habe ich einen Film über Leibnitz gemacht, dessen Todestag sich am 14. November zum 300. Mal jährt. Über diesen großen Erzähler haben wir einen Film gemacht, und der wird am Eingang meines Vortrages stehen.

Sie haben bei Ihren Filmen immer wieder auch Musik von Richard Wagner eingesetzt.
Kluge: Wagner habe ich sogar kräftig eingesetzt. Man unterschätzt ihn, immer noch.

Welche Qualitäten haben Sie in seiner Musik festgestellt?
Kluge: Wenn Sie sein Orchester in Fragmente zerlegen, zeigt er immer noch seine großen Qualitäten zeigt, so wie Bach. Man darf sich nicht vom großen Wurf täuschen lassen, den hat er auch. Doch was er wirklich kann, das liegt im Detail. Dort hat er seine größte Meisterschaft. Luigi Nono hat mir beigebracht, die Orchesterperspektive zu wählen. Warum macht ihr immer bei der Oper die Totale, hat er mich gefragt. Und er sagte: Geht doch mal ins Orchester rein, hört doch nur vom Dirigenten aus die zweiten Geigen, Bratschen, etwas Blech und Pauken. Hört dann konsequent ins Blech hinein. Wenn man das bei Wagner tut, merkt man, was für ein ungeheures Werk er eigentlich geschaffen hat. Der Gesamtklang deckt die Qualität des Besonderen zu. Und Wagner ist ein absoluter Spezialist des Besonderen.

Wagners unterirdische Verbindung zu Verdi

Und ein Komponist, über dessen Leben man weiterhin Filme drehen könnte.
Kluge: Ich habe da etwas in der Oper „Die Afrikanerin“ festgestellt. Das ist eine große Oper von Giacomo Meyerbeer. Über den konnte Wagner nicht genug schimpfen. Die Schrift über das „Judenthum in der Musik“ ist ein Angriff auf Meyerbeer. Also, diese Oper kommt im Jahr 1865 heraus, mit einem Liebestod von 23 Minuten Länge. Tristan feiert im selben Jahr Premiere – mit neun Minuten Liebestod. Da sind die beiden Feinde unterirdisch verbunden.

Das wird den meisten Wagnerianern bislang verborgen geblieben sein.
Kluge: Ja. Und im selben Jahr, im Jahr 1865, eröffnet in Paris das Bataclan – wo im vergangenen Jahr etwas Fürchterliches geschah. Das Bataclan ist wie eine asiatische Pagode gebaut, nach dem Muster der gleichnamigen Operette von Jaques Offenbach. Offenbach erzählt in dieser Operette die Geschichte eines Pariser Jungen, der Kaiser von China wird. Und der dekretiert, dass alle Chinesen eine Quatschsprache lernen sollen, die sich so anhört, wie sich Franzosen eben so Chinesisch vorstellen. Es gibt dann einen Aufstand, die Chinesen bedrängen den Pariser Jungen. Und dann kommt eine schöne Szene, eine der schönsten und größten, in der man Musik von Meyerbeer erkennt – das Massaker aus den „Hugenotten“.

Überall Verbindungen?
Kluge: Ja, Verbindungen – der Physiker würde zutreffender von Verschränkungen sprechen. Diese Geschichten folgen ja nicht kausal und logisch aufeinander, im System von Ursache und Wirkung. Die Wirklichkeit ist so reich. Sobald sie als Archäologen antreten, und das sind Poeten eigentlich, merken sie, wie reich die Wirklichkeit ist.

Wir halten fest: Der Erzähler muss nichts erfinden...
Kluge: ...er muss suchen, richtig. Und er muss sammeln. Wie die Grimms.

"Wagner ist als Erzähler unterschätzt"

Kommen wir nochmals auf Wagner, den Erzähler, zurück. Alle reden über die Musik und lachen über das Libretto. Ich finde, er ist genau in diesem Punkt unterschätzt.
Kluge: Er ist unterschätzt, das stimmt. Die „Götterdämmerung“ ist besonders dramatisch. Die hat er als erstes geschrieben, komponiert hat er dann andersherum, mit dem „Rheingold“ zu Beginn. Er hatte sich alles bestens überlegt, erzählt genau, ohne Wiederholungen und Schleifen. Gründlichkeit hatte er, die gehört zum Erzählen dazu. Wie Homer, der erzählt in seiner Beschreibung vom Schild des Achill die ganze Ilias.

Wagners Musik kommt in vielen Filmen vor, unmittelbar oder so, dass man Wagner noch als Stichwortgeber erkennt. Was macht ihn so einflussreich?
Kluge: Wagner ist so vielfältig, dass sowohl Schönberg mit ihm anfängt, ihn Bruckner begleitet, Alban Berg ihn wie ein Bergwerk verwendet. Wenn Sie einen Ton anschlagen, dann haben Sie eine Obertonreihe, die sie mithören. Wenn sie bei Wagner ein Stück herausnehmen – nehmen sie nur in der „Götterdämmerung“ die Rheintöchter in der Szene mit Siegfried – dann können sie eine ganz Oper nur über dieses Stück schreiben. Das ist bei fast jedem Stück von Wagner so. Weil er keine Phrasen hat.

Was man auch erstmal merken muss.
Kluge: Bei einer Sendung für RTL hatten wir diese Szene mit den Rheintöchtern. Wie haben sie merhmals gebracht, einmal nur mit Orchester, einmal nur mit Klavier, dann aus der Aufführung heraus. Wie haben das Stück fünfmal wiederholt, aus einem immer neuen Blickwinkel heraus. So wurden die Zuschauer neugierig, so bekamen sie Berührung mit Wagners Werk. Das ist ehr komplexe Musik. Sie brauchen viel Berührung, sie müssen sie von fünf verschiedenen Seiten anschauen, wie einen Diamanten, der verschiedene Facetten hat. Wenn Sie das so aufschlüsseln, dann bekommen sie eine regelrechte Zapperfalle – etwas, bei dem auch der Fernsehzuschauer hängenbleibt.

INFO:
Der Deutschlandtag der Germanisten versammelt von Sonntag bis Mittwoch rund 500 Wissenschaftler an der Uni in Bayreuth. Das Großereignis wird am Sonntag um 18 Uhr miteinem Vortrag von Alexander Kluge eröffnet. Weitere bekannte Autoren sind zu Gast, etwa Falk Richter, Matthias Politycki und Felicitas Hoppe, die am Montag einen Vortrag halten wird (20 Uhr).

Anmerkung: Wir haben einen Fehler im Satz ausgebessert. Indem ein Nachsatz einer Frage zu einem Teil einer Antwort Alexander Kluges wurde, entstand der Eindruck, er habe sich der Selbstverliebtheit geziehen - das aber ist  unzutreffend. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen. Die Passage lautet nunmehr richtig:

"Ovid und Homer – was mögen Sie außer den Nachrichtensängern noch an diesen Autoren? Was können wir von ihnen lernen?

Kluge:Die prägnante Kürze. Das ist wirklich großartig. Und große Kunst.

Ich kann's nicht, versage regelmäßig daran. Vielleicht, weil ich selbstverliebt bin. Gibt es für Erzähler eine schlimmere Sünde?

Kluge: Erzähler sollten ihre Ich-Schwelle senken. Sie sind Zuhörer, schreiben Protokolle."

Bilder