19. Oktober 1990: Der schwarze Freitag

Von Elmar Schatz
 Foto: red

Einer der schlimmsten Unfälle im deutschen Straßenverkehr jährt sich zum 25. Mal am Montag: Am Freitag, dem 19. Oktober 1990, sterben bei einer Massenkarambolage in der Münchberger Senke zwischen den Anschlussstellen Nord und Süd der Autobahn A 9 zehn Menschen: eine 25-jährige Frau, zwei Mädchen im Alter von sechs und zwölf Jahren, vier ältere Frauen und drei ältere Männer. Mehr als 120 Menschen werden verletzt.

 
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Ich werde damals am Morgen aus der Redaktion angerufen und gebeten, von Bayreuth aus zur Unfallstelle zu fahren und über das Geschehen zu berichten. Zu diesem Zeitpunkt ist das Ausmaß des Unglücks nicht bekannt. Die Anfahrt ist schwierig, weil bereits hinter dem Bindlacher Berg der unfallbedingte Stau beginnt, obwohl die Karambolage bei Münchberg auf der Gegenfahrbahn Richtung Süden geschehen ist.

Aber die Autobahn ist komplett gesperrt, um Platz für die Einsatzkräfte zu schaffen. Zäh komme ich vorwärts und ärgere mich zunächst, nicht die Landstraße genommen zu haben, um dann in der Nähe der Unfallstelle auf die Autobahn einzubiegen. Gleich darauf stellt sich heraus, dass die Einfahrt dort blockiert ist.

Entschlossen fahre ich an stehenden Autos vorbei nach vorne – und werde von einem Polizisten aufgehalten; ich zeige meinen Presseausweis. Nach kurzer Diskussion warnt er mich vor entgegenkommenden Rettungsfahrzeugen und lässt mich über die gesperrte, vollkommen leere Fahrbahn bis zur Unfallstelle weiterfahren. Mittlerweile ist der Nebel fast verschwunden.

Vor mir sehe ich auf der linken Seite in der Münchberger Senke jetzt die lange Schlange der verunglückten Fahrzeuge. Ich fahre nahe heran, parke mein Auto auf dem Standstreifen und laufe auf diesen Ort des Schreckens zu. Ich sehe zahlreiche Menschen an der Leitplanke in der Mitte der Autobahn warten, und erfahre: Die Leute hier waren Insassen verunglückter Fahrzeuge. Sie sind unverletzt geblieben oder haben nur geringe Blessuren. Niemand hat Zeit für sie.

Die Sanitäter haben jetzt, gegen 10 Uhr, die meisten Schwerverletzten in Krankenhäuser gebracht. Feuerwehren und ein privates Kran-Unternehmen ziehen vorsichtig die ineinander verkeilten Fahrzeuge auseinander.

Die Helfer finden immer noch Opfer. Eine Mutter wird nach drei Stunden schwer verletzt herausgeholt, ihre beiden Kinder, um die sie stundenlang geweint hatte, sind tot.

Nun stehe ich vor dem Milchlaster, dessen Fahrer als Hauptverursacher der furchtbaren Karambolage gilt. Feuerwehrleute haben gerade ein Auto, das von dem Milchlaster zusammengepresst worden ist, behutsam auseinandergenommen. Ich erschrecke: Eine leblose Hand ragt aus einem Autofenster. Feuerwehrmänner treten plötzlich vor das Wrack und ziehen eine graue Decke auseinander, um mir und anderen Zuschauern die Sicht zu versperren. Eigentlich möchte ich gar nicht hier sein, nicht Zeuge dieses Grauens.

Hinter der Decke bergen die Feuerwehrleute nun die Tote oder den Toten. Ich wende mich ab. Fotografiere, weil es mein Beruf ist, ausgebrannte Autos, die am Straßenrand liegen, sowie den Bus und den Milchlaster, die wie Prellböcke wirkten, zwischen denen mehrere Pkws zusammengeschoben worden sind. Ich entferne mich, gehe an der langen Reihe von Wracks entlang.

Weiter vorne irrt ein Mensch über die Fahrbahn – und ruft ständig: „Ich muss um zehn Uhr in Nürnberg sein; ich hab’ dort ein Vorstellungsgespräch.” Im Oktober 1990 versuchen viele ehemalige DDR-Bürger im Westen Arbeit zu bekommen. Umgekehrt ziehen die Glücksritter und Profitgierigen in die neuen Bundesländer. Geradezu fiebrige Eile treibt alle an. Geduld hat kaum jemand im Stress der Wiedervereinigung.

Ich eile an diesem schwarzen Freitag von Münchberg zurück nach Bayreuth, um meinen Bericht zu schreiben; 1990 kann sich kaum jemand vorstellen, dass es einmal so etwas wie Smartphones und iPads für eine Direktübertragung von Text und Bildern geben wird.

Hintergrund: Das Nebel-Unglück vom 19. Oktober 1990

Was ist am 19. Oktober 1990 passiert? Aus Richtung Thüringen westwärts fahrende Wagen tauchen bei Münchberg plötzlich in dichten Nebel ein; die Fahrer sehen nichts mehr. Es kracht. Zunächst nicht so schlimm.

Gegen 8.30 Uhr wird der Polizei ein Auffahrunfall mit etwa zehn Fahrzeugen gemeldet. Aber schon wenige Minuten später sind etwa hundert Fahrzeuge ineinander gefahren. Fünf Wagen stehen in Flammen. Dann das Furchtbare: Ein Milchlaster rast in den Stau, presst ein Auto in die Mittelleitplanke, schleudert zwei weitere Pkw auf die Gegenfahrbahn und quetscht vier Autos zwischen sich und einen Bus. Zum diesem Zeitpunkt ist der Rettungsdienst noch nicht vor Ort. Das Rote Kreuz, die Feuerwehren der umliegenden Orte sowie das Technische Hilfswerk rücken an. Die Helfer müssen Tote und Verletzte aus Wracks holen; mit schwerem Gerät das deformierte Blech auseinanderbiegen.

Der Fahrer des Milch-Lastwagens wird später zu drei Jahren Haft verurteilt. Seine Tachoscheibe hatte er gleich an der Unfallstelle hinuntergeschluckt. Die Schuld kann ihm deshalb nur bedingt nachgewiesen werden.

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