175 Jahre Jean-Paul-Verein in Bayreuth

Von Norbert Heimbeck
175 Jahre Jean-Paul-Verein: In der Hans-Sachs-Srtaße ist das Jugendhilfestift mit Wohnheim, Schule und anderen Einrichtungen des Vereins angesiedelt. Foto: red Foto: red

Vor 175 Jahren wurde der Jean-Paul-Verein ins Leben gerufen und ist seither ein wesentlicher Teil der Bayreuther Sozialgeschichte. Er ist der älteste diakonische Verein der Stadt und der drittälteste in Bayern. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die Kinder-, Jugend- und Altenhilfe und der Betrieb einer Förderschule. Diakonie-Geschäftsführer Franz Sedlak und Helmut Raithel, Abteilungsleiter Jugendhilfe des Vereins, stellen im Kurier-Interview ihre Arbeit vor. Sie antworten auf Zitate aus Jean Pauls Werk „Erziehlehre“.

 
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Kinder und Uhren dürfen nicht ständig aufgezogen werden: man muss sie auch mal gehen lassen.

Helmut Raithel: Wir haben Kinder, die zu viel gehen gelassen wurden. Unsere Aufgabe ist es, Grenzen zu setzen und Strukturen zu schaffen.

Franz Sedlak: Wissen Kinder noch, wie man eine Uhr aufzieht? Vor 175 Jahren saßen die Kinder auf der Straße, heute sitzen sie vor dem Smartphone. Wir müssen ihnen erklären, wie man ein soziales Netzwerk im richtigen Leben entwickelt. Die Herausforderung lautet, zu erklären, wie die Grundzüge des Lebens funktionieren. Die Erfolgsquote dabei ist unterschiedlich.

Raithel: Es gibt Kinder, die keine Hilfe suchen, und es gibt welche, denen keine Hilfe angeboten wird. Die Ursachen dafür liegen in der Technologie, im Umgang damit und im demografischen Wandel. Es gibt immer Gewinner und Verlierer.

Sedlak: Die Gesellschaft als Ganzes funktioniert mit Gewinnern und Verlierern. Die Inhalte ändern sich, die Strukturen bleiben gleich. Aber früher gab es deutlich mehr Verlierer. Heute fehlt oft die Sensibilität, mit der Situation umzugehen.

Mit einer Kindheit voll Liebe kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten.

Sedlak: Die Frage ist: Welche Liebe schöpft das Kind aus der Mutter-Kind-Beziehung? Wir alle wurden konditioniert, manche mit mehr, manche mit weniger Liebe. Auch wenn es ein übles Wort ist: Der Zeitgeist prägt den Umgang mit den Kindern. Früher war ein Spaziergang am Sonntagnachmittag üblich, heute sitzen die Kinder alleine vor ihrer Spielekonsole. Die Eltern geben dem Druck beziehungsweise dem allgemeinen Konsumverhalten nach.

Raithel: Wir haben hier Kinder mit emotionalem und sozialem Förderbedarf. Man muss sagen, dass in vielen Fällen die emotionale Stabilität nicht mehr gegeben ist. Die Reduzierung auf die Ein-Generationen-Familie nimmt hier vieles weg. Früher hat sich manches reguliert, weil die Großeltern in die Erziehung mit einbezogen waren. Sicher ist: Die Zahl der Kinder mit Förderbedarf wird steigen, auch wenn die Zahl der Kinder insgesamt abnimmt.

Sedlak: Früher haben wir auf dem Spielplatz soziale Kompetenz gelernt. Entweder hat man sich durchgesetzt oder man hat verloren.

Auf Kinder wirkt nichts so schwach, als eine Drohung, die nicht noch vor Abend in Erfüllung geht.

Raithel: Das ist unser tägliches Brot. Was viele Eltern in Sachen Konsequenz versäumt haben, müssen wir jetzt richten. Das Problem ist, dass viele Eltern sich nicht getraut haben, ihren Kindern einmal ein Nein zu sagen.

Sedlak: Auch soziale Organisationen müssen Nein sagen, zum Wohle des Ganzen. Gäbe es keinen Jean-Paul-Verein, wäre die Versorgung der Kinder Pflichtaufgabe der Sachaufwandsträger oder Kommunen. Wenn wir das nicht ordentlich hinkriegen, wird die Gesellschaft ein Problem haben.

Raithel: Wichtig ist: Wir arbeiten auch mit den betroffenen Familien. Es gibt da ganz unterschiedliche Formen. Der Erfahrungsaustausch über die Generationen hinweg, also von den Großeltern über die Eltern zum Kind, ist leider stark reduziert. Was da verloren geht, ist nicht wiederherzustellen. Bei uns erleben die Kinder, dass es auch anders geht. Wir merken es ganz genau: Viele sprechen darauf an, wenn wir ihnen Strukturen und Regeln anbieten.

Alle Mittel und Künste der Erziehung werden erst durch das Ideal beziehungsweise das Urbild bestimmt.

Sedlak: Der Jean-Paul-Verein ist angetreten, sich um Kinder zu kümmern und ihnen Grundzüge des Miteinanders zu vermitteln. Das ist mühsam: Pädagogen müssen in einem geschützten Umfeld in einer definierten Zeit regelhaftes Verhalten lehren.

Raithel: Wir arbeiten auf Basis eines christlichen Menschenverständnisses. Es wird immer wichtiger, dass man sich auf diese Werte besinnt.

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