Wirtschaftswunder im Anderen Museum

Von Michael Weiser

Deutschland hatte den Krieg verloren, wurde kurz darauf Fußball- und Wirtschaftsweltmeister. Die Kleider waren elegant, die Frauen schön,  die Männer durften noch rauchen, und der Toast Haiwaii wurde zum Symbol der küchenzahm gemachten Exotik. In seinem Anderen Museum blickt Franz Joachim Schultz auf das erste Vierteljahrundert der Bundesrepublik zurück.

 
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Der vielleicht berühmteste Satz der 50er Jahre beginnt als unverbindliche Empfehlung. „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen“, sprach der Radioreporter Herbert Zimmermann am verregneten 4. Juli 1954 mit mühsam unterdrückter Erregung in sein Mikrophon. Um Zehntelsekunden später seiner Begeisterung die Zügel schießen zu lassen. „Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!“ Es war das 3:2 gegen Ungarn, Deutschland wurde erstmals Fußballweltmeister. Nicht nur das: Es war auf einmal wieder wer, neun Jahre nach dem Ende des großen Debakels. Vom Weltkrieg zum Weltmeistertitel – es war der Wahnsinn. Und die verschwitzten, patschnassen, verdreckten Kicker der DFB-Auswahl wurden zu den „Helden von Bern“.

Franz Joachim Schultz ist kein Fußball-Fan, so ganz aber kam er nicht vorbei am „Wunder von Bern“. Ein schmaler grüner Band ziert seine neue Ausstellung, auf dem autogrammverzierten Titelbild sieht man den Kapitän der Weltmeister-Elf, den unvergessenen Fritz Walter, mit dem Pokal in seinen Händen. Der im übrigen viel kleiner war als der heutige Pokal, wie ja auch die Würdigung in dem Bändchen viel karger ausfiel als heutzutage. Der Fußball jener Tage war eben auch noch weit entfernt vom heutigen Millionengeschäft.

"Aufmüpfig" als Wort des Jahres

Im begehbaren Bücherschrank des Anderen Museums (er zieht "begehbarer Zettelkasten" vor) lädt Schultz diesmal zu Spaziergängen durch die Zeit von 1945 bis 1970 ein. Keine Tour, die alles böte, was jene Jahrzehnte zu bieten hätten, eben eine kleine Wanderung, die den Besucher noch dazu anregt, sich in das eine zu vertiefen, das andere aber links liegen zu lassen. Man flaniert hier, weitgehend sich und seiner Neugier überlassen, bringt, bedudelt von den herzigen Schlagern jener Zeit, Fremdgewordenes wieder miteinander in Verbindung.

Überraschenderweise vermisst man gar nicht zu sehr, dass Schultz nicht erklärt noch kommentiert, ja, dass er einige Ereignisse jener 25 Jahre ausgeblendet hat: den Vietnam-Krieg zum Beispiel, oder die so genannte Revolution der 68er. Vielleicht ist es auch gar kein Zufall, dass Schultz die Ausstellung ungefähr im Jahre 1970 enden lässt. Ein Jahr später kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache erstmals ein Wort des Jahres, es lautete „aufmüpfig“: Die Jugend muckte auf, das bunte Erscheinungsbild der Hippies machte auch optisch klar, dass sich die Zeit der alten Autoritäten dem Ende zuneigte.

Viel zeigt die kleine Ausstellung von der Literatur jener Tage, von Günther Grass, Heinrich Böll und Max Frisch, von Jean Paul Sartre, Jean Cocteau und Françoise Sagan, aber auch von Edgar Wallace und von Arthur Miller, dessen Ehegattin zwar keine Dramen schrieb, aber viel besser aussah: Marilyn Monroe. Dazu Johannes Mario Simmel. Dessen Bestseller „Es muss nicht immer Kaviar sein“ erzählt nicht nur eine amüsante Agentenstory, sondern mischte auch die von schweren Saucen verklebte Kochkultur der jungen Bundesrepublik auf. Ein mit Kochrezepten angereicherter Roman – eine köstliche Idee in einer Zeit, die überhaupt Ratgeber schätzte. Man sieht auch viele Plakate, Fotos und Reklamegrafiken, bevorzugt mit den schönen Frauen der 50er und 60er Jahre – und stellt fest, dass diese Damen heute so jung wirken wie eh und je. Was für eine Hochzeit für die Mode! Ein Foto zeigt den jungen Marcello Mastroianni, „Der Mann von heute“ ist es betitelt. Natürlich ist das für uns Heutige nicht der Mann von heute, sondern von gestern oder gar vorgestern, das Foto ist sozusagen ein Denkmal der Vergänglichkeit. Ein großartiger Schauspieler war Mastroianni trotzdem.

"Toni, du Fußballgott"

Stolz ist Schultz offenbar auf seine Sammlung von erotischen Ratgebern. Da traute man sich aber was in der jungen Republik. Nur an die dunklen Kapitel der Vergangenheit mochte man noch nicht rühren. Eine Illustrierte sieht man im Anderen Museum, die über Heloise von Lettow-Vorbecks Ostafrika-Reise „an der Seite ihres Vaters“ berichtet. Dass dieser Paul von Lettow-Vorbeck auf den kolonialen Nebenschauplätzen des Ersten Weltkriegs Tausende und Abertausende von Afrikanern geopfert hatte, interessierte nicht in einer Zeit, da Franz Josef Strauß das deutsche Wirtschaftswunder mit folgenden Worten feierte: Ein Volk, "das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat", habe ein Recht, "von Ausschwitz nichts mehr hören zu wollen“.

Viel diskutabler waren damals noch die Äußerungen Zimmermanns beim WM-Finale in Bern: „Turek, du bist ein Teufelskerl! Turek, du bist ein Fußballgott!“, so hatte Zimmermann den Torwart Toni Turek gepriesen. Hinterher musste er Abbitte leisten, erst vorm Intendanten, dann auch in aller Öffentlichkeit. Blasphemie - Die Kirchen hatten protestiert.

INFO: Die Ausstellung ist bis 30. Juni 2016 zu besichtigen, und zwar dienstags und donnerstags 15 bis 17 Uhr sowie sonntags von 11 bis 15 Uhr.  Oder nach Vereinbarung unter 01577 /15 89 000.