Der Großteil der Entführungen findet mittlerweile im Nordwesten des Landes statt. Dort treiben Banden von Warlords ihr Unwesen, die Bauern zur Zwangsarbeit entführen oder Lösegelder von Familienangehörigen fordern. Die sogenannten Banditen sind auch für die jüngsten Massenentführungen von Schulkindern verantwortlich. "Die Entführung der Chibok-Mädchen hat absolut die Generation von Banditen inspiriert, die wir heute haben", analysiert Sicherheitsberater Yahuza Getso Ahmad im Onlinemedium Semafor.
SBM: Millionen-Einnahmen für die Erpresser
Der Weltbank zufolge lebte zuletzt mehr als jeder Dritte in Nigeria in extremer Armut von weniger als 2 Euro am Tag. Steil ansteigende Preise, Mangelwirtschaft und Ernteausfälle wegen blutiger Konflikte treiben viele aus Verzweiflung in die Kriminalität, erklären Experten. Entführungen sind vergleichsweise risikoarm und bringen viel Geld. Lösegeldzahlungen sind seit 2022 in Nigeria verboten – praktisch verscherbeln Familien weiterhin alles, was sie haben, um Kinder wieder freizukaufen. Nach Schätzung von SBM fließen jährlich Millionen Euro in die Kassen der Erpresser.
Auch wenn der Kampf gegen Bildung für Mädchen als Motiv nicht mehr im Vordergrund steht, drohen katastrophale Auswirkungen auf eine ganze Generation. Nach Zahlen des UN-Kinderhilfswerks Unicef von 2022 besucht mehr als die Hälfte aller Mädchen in Nigeria keine Schule. Besorgte Eltern verheiraten Mädchen so früh wie möglich, um sie vor Schlimmerem zu schützen. Tausende Schulen sind geschlossen oder zerstört. Nigerias Regierung rief nach dem Chibok-Fall eine Initiative ins Leben, die Schulen sichern sollte. Hilfsgelder und Investitionen in zweistelliger Millionenhöhe kamen aus der ganzen Welt, doch ihr Verbleib ist nicht geklärt.
"Die Initiative, die die Schulen schützen sollte, besteht nur auf dem Papier. Nichts wird getan, um sie umzusetzen. Es ist ein Versagen der Regierung", sagt "Bring Back Our Girls"-Aktivistin Fatimah Abba Kaka. "Sie sollten die Erkenntnisse der Ermittlungen auswerten, wie die Entführung stattfinden konnte und wo das Versagen lag. Und die Regierung sollte sich darum kümmern, die verbliebenen Mädchen zu befreien."
"Wir sind immer noch nicht sicher"
Viele der freigelassenen jungen Frauen aus Chibok sind wieder in die Schule zurückgekehrt oder studieren. "Wann immer ich höre, dass wieder Kinder entführt wurden, fühle ich mich fürchterlich, hilflos", sagt eine 28-Jährige, die unter den entführten Mädchen war und nun Natur- und Umweltwissenschaften studiert. "Wir sind immer noch nicht sicher."
Zwar ist Nigeria die größte Volkswirtschaft des Kontinents mit einer der größten Armeen – aber das Land ist von Korruption zerfressen, Soldaten sind schlecht bezahlt und ausgerüstet, die Polizei existiert in der Fläche kaum. Krisen in jeder Ecke des Vielvölkerstaats mit mehr als 220 Millionen Einwohnern überdehnen die Kräfte.
Der Politologe Chukwudi Victor Odoeme zieht im dpa-Gespräch eine düstere Bilanz: "Die Menschen sind so sehr mit dem Überleben beschäftigt, dass sie sich nicht um die Versäumnisse der Regierung kümmern. Und die Regierenden sind froh, dass niemand sie zur Rechenschaft zieht."