Magische Zeitlosigkeit
Wer nur im Hier und Jetzt lebt, kennt keinen Stress – und das ist gesund und wichtig für die Entwicklung von Kindern. Diese fast magische Zeitlosigkeit ist etwas, das die Kindheit ausmacht. Trotzdem sagen inzwischen viele Kinder, dass sie gestresst sind. Wovon? „An erster Stelle nennen sie die Schule, danach die Familie. Und wenn man sie fragt, was genau den Stress auslöst, dann vermissen sie mehr selbstbestimmte Zeit im Alltag“, sagt Wahne.
Denn spätestens mit der Grundschule ist Zeit nicht mehr nur das, was man gerade erlebt. Die Zeit bekommt Struktur in Form eines Stundenplans und eines Kalenders und wird damit zur planbaren Größe. Man muss zu einer bestimmten Zeit Dinge tun, auf die man vielleicht keine Lust hat. Und das erzeugt innere Unzufriedenheit und Frust. „Die Frustrationstoleranz, die für dieses Uhrzeiten-Leben nötig ist, entwickelt sich erst mit den Jahren“, sagt Ivo Muri.
Wenn Eltern erklären, warum manche Dinge nur mit fixen Uhrzeiten funktionieren, hilft das Muri zufolge den Kindern. Daneben jedoch sollte ein großer Zeitraum für das gemeinsame Erleben bleiben, losgelöst von fixen Terminen. Zeiten, zu denen alle zu Hause sind, dienen der Entwicklung einer Familienkultur.
In solchen Begegnungs-Zeit-Räumen können sich dann Gespräche ergeben, es können sich alle an den Tisch setzen und in Ruhe essen, ohne dass gleich wieder jemand los muss. „Das stärkt Familien und Kinder ungemein, wenn sie der Zeit mehr Raum schenken“, so Muris Erfahrung.
Zumindest so lange, bis Teenager aus diesen familiären Zeiträumen wieder ausbrechen und sich – als wichtige Abgrenzung zu den Erwachsenen – eigene Zeiträume suchen. „Das drückt sich dann häufig in anderen Alltagsrhythmen aus“, sagt Tilmann Wahne. Denn: Mittags frühstücken die Eltern eher nicht mit. Auf nächtlichen Partys ist das Risiko geringer, Erwachsenen über den Weg zu laufen. Und in den virtuellen Räumen finden sich die Jugendlichen meist so viel besser zurecht als ihre Eltern, dass sie auch dort ungestört Zeit verbringen können.
Und zwar so, wie es ihrer Vorstellung entspricht. Und nicht so, wie es zunehmend von ihnen erwartet wird: mit einem ökonomischen Blick auf die Zeit. Zeitforscher Ivo Muri nennt das die dritte Art von Zeit. Erwachsene erleben sie meist nur noch so: als knappes Gut, das bewirtschaftet werden muss, auch um Geld zu verdienen.
„Indem wir Erwachsene aus Zeit Geld machen, verwechseln wir die Lebenszeit zunehmend mit der Uhr. Und damit verlieren wir den Zeitbegriff, den wir alle noch hatten, als wir Kinder waren“, sagt Ivo Muri.
Blickt man durch diese ökonomische Zeitbrille, macht ein Jugendlicher, der auf der Couch chillt, statt für die Schule zu lernen, etwas Sinnloses. Dabei tut er eigentlich nur das, was für diesen Entwicklungsabschnitt so wichtig ist: sich von der Erwachsenenwelt abgrenzen und in diesem Fall das Zeit-ist-Geld-Mantra ablehnen. „Außerdem verstehen Jugendliche unter sinnvollen Tätigkeiten einfach oft etwas anderes als Erwachsene, und das ist ihr gutes Recht“, sagt Tilmann Wahne.
Kinder nehmen sich selbstbestimmte Zeit
Denn jeder Mensch braucht Zeiten, die er selbstbestimmt gestalten kann. „Eltern denken oft, dass ihre Kinder ganz viel selbstbestimmte Zeit haben“, sagt Tilmann Wahne. Wer sich jedoch mal in den Tagesablauf des Nachwuchses hineinversetzt, der merke häufig, wie wenig freie Zeit durch Schule und geplante Freizeitaktivitäten tatsächlich übrig bleibt – um zu träumen, zu trödeln, zu chillen. Und dabei vor allem die Uhrzeit nicht im Blick haben zu müssen.
Kinder schaffen es noch, sich solche Zeiträume einfach zu nehmen – vorausgesetzt man lässt sie und stresst sie nicht. „Erwachsene müssen sich dagegen häufig mit Buddhismus beschäftigen, Yoga-Kurse besuchen oder solche Dinge tun, um den achtsamen Umgang mit der Zeit wieder zu lernen“, sagt Ivo Muri. Manchmal würde es vielleicht auch einfach reichen, mal wie der Teenager bis mittags im Bett liegen zu bleiben.
Wie sich das Zeitgefühl entwickelt
Bis etwa sieben Jahre
Bis ins Grundschulalter hinein haben Kinder nur ein begrenztes Verständnis für das gesellschaftliche Leben nach der Uhrzeit, mit Begriffen wie „in einer Stunde“ oder „morgen“ können sie nichts anfangen. Ab einem Alter von etwa zwei, drei Jahren, merken Kinder allmählich, dass es einen Unterschied gibt zwischen „jetzt“ und „früher“ oder „später“. „Genauer differenziert werden kann das aber noch nicht. Alles, was nicht sofort stattfindet, kann dann beispielsweise ‚morgen‘ sein“, sagt Tilmann Wahne. Um dennoch mit ihnen über bestimmte Zeitpunkte sprechen zu können, hilft es Wahne zufolge, diese mit möglichst konkreten Ereignissen zu verbinden. Also beispielsweise: Noch einmal schlafen, dann fahren wir zur Oma. Und nicht: Morgen fahren wir zur Oma. „Kinder in diesem Alter hilft ein Tagesrhythmus mit verlässlichen Schlafens- und Essenszeiten, um sich langsam an eine Zeitstruktur zu gewöhnen“, sagt Ivo Muri.
Ab der Grundschule
Sobald Kinder die Uhr lernen, beginnen sie auch ein Gefühl für die Uhrzeit zu entwickeln. Bis sie ein Verständnis für die tatsächliche Dauer von etwa einer Stunde bekommen, dauert es aber. Denn die Uhrzeit ist nichts Natürliches, die Zeiteinheiten wurden von den Menschen geschaffen. Ein Zeitgefühl lässt sich auch nicht trainieren, sondern erfordert Lebenserfahrung. „Und selbst bei den Erwachsenen haben manche ein sehr gutes und andere ein ungenaues Zeitgefühl“, sagt Tilmann Wahne.
Ab dem Erwachsenenalter
Je älter man wird, umso mehr wird einem die Endlichkeit des Lebens bewusst, und damit wird die Zeit immer mehr zum knappen Gut, die es möglichst sinnvoll zu nutzen gilt. Obwohl Erwachsene schon viele Jahre mit der Uhrzeit leben, vergeht die Zeit dennoch mal schneller und mal langsamer. Das hängt damit zusammen, wie viele Reize beispielsweise während einer Stunde auf einen einprasseln. Sitzt man in dieser Zeit im Wartezimmer eines Arztes und schaut nur aus dem Fenster, kommt einem die Stunde sehr lange vor. Ist man dagegen während eines Fußballspiels im Stadion oder während eines Konzerts ständig neuen und schönen Impulsen ausgesetzt, verfliegt die Zeit. (mar)