Das war Ratzingers Weltauffassung ebenso wie seine Wahlrede vor den Kardinälen. Wenn er diese Zeitanalyse acht Jahre später noch einmal in unveränderter Form einsetzte, diesmal als Motiv für den Rücktritt, dann klang sie wie eine Kapitulation: Mein Amt, meine Tätigkeit, hat keine Veränderung bewirkt. Es muss ein Stärkerer ran.
Der Bruch, den Benedikt XVI. mit seinem Rücktritt vollzog, war umso verblüffender, als ausgerechnet er selbst bis dahin jeden Bruch in der Kirchengeschichte abgelehnt oder in Abrede gestellt hatte. Brüche waren ihm auch menschlich zuwider, deshalb versuchte er zum Beispiel jenen mit der erztraditionalistischen Pius-Bruderschaft zu kitten – über den Tisch gezogen wieder einmal von Leuten aus der eigenen Kurie, sowie um den Preis, einen Holocaust-Leugner als Bischof zu rehabilitieren und sich vorführen zu lassen, von einer Gruppe, die keinen Frieden, sondern den Sieg wollte.
Absage an fast jede Reform
Den „Linken“ wiederum beschied Benedikt XVI., Reformen seien „nicht im Bruch, sondern nur in Kontinuität“ mit der traditionellen Lehre zu haben, die nur aus ihrem Inneren heraus weiterentwickelt werden könne. Und prinzipiell seien Kirchenreformen sinnlos, so lange „die Glaubenskrise“ fortdauere in der Welt. Das war eine Absage an beinahe jede Reform, und Ratzinger garnierte sie optisch unaufhörlich mit modischen Rückgriffen aufs 19. Jahrhundert oder noch weiter.
Dabei hatte gerade Joseph Ratzinger als junger Startheologe beim Zweiten Vatikanischen Konzil 1962 bis 65 (der andere war ein gewisser Hans Küng) großen Anteil an der Aktualisierung, dem Vorwärtstreiben der kirchlichen Lehre – bis er 1968 als Professor in Tübingen entsetzt zurückschreckte vor der Gewalt, mit der sich der Ausbruch einer bis dahin geschlossenen Gesellschaft entlud. Küng blieb im Gewühle, der von ihm auf den Lehrstuhl gerufene Ratzinger floh ins heimische Bayern, nach Regensburg, wo die alte Welt noch in Ordnung war. Und als Präfekt der Glaubenskongregation, zu welchem ihn der polnische Papst Johannes Paul II. 1981 ernannte, übernahm Ratzinger die Aufgabe, in so beunruhigend auseinander fliegender Weltordnung das katholische Lehrgut unversehrt zusammenzuhalten. Das implizierte schon von Amts wegen eine Abwehrhaltung, in der auf der anderen Seite des Grabens die Bezeichnung „Panzerkardinal“ aufkam, während Ratzinger die heutige Welt als „Kultur des Todes“ denunzierte.
Auch im Ruhestand meldete er sich immer wieder zu Wort
Dabei haftete Benedikts Aktionen immer etwas leicht Zwiespältiges an. Bis zuletzt trug er die weiße Papstsoutane, wohnte im Vatikan, und hatte er anfangs gesagt, er wolle „der Welt verborgen bleiben“, so meldete er sich auch im Ruhestand immer wieder zu Wort. Oder er ließ sich gerne um Wortmeldungen bitten von Konservativen, auch von Kardinälen, die ihn als den „wahren Papst“ benutzen wollten für ihre eigenen Attacken auf den Nachfolger Franziskus. Ob Benedikt oder sein Privatsekretär Georg Gänswein diese Manöver nicht durchschauten oder vielmehr aktiv mitspielten, blieb offen.
In den letzten Jahren seiner Papstzeit musste Benedikt auch einen bedrückenden Wahrnehmungswechsel vollziehen. Aus dem Innersten der Kirche kommend, hatte er aus dieser Perspektive in die Welt hinausgepredigt – während diese Welt zusehends merkte, wie marode gerade Vatikan und Kurie in sich selber waren: Die peinliche, wenn auch am Ende lachhafte Spionage-Affäre Vatileaks, die wiederholten Skandale ums Geld, die Pädophilie, und darin vor allem der groteske Auftritt von Chefkardinal Angelo Sodano. Der tat bei der Ostermesse 2010 – abseits von Liturgie und Protokoll – alle einschlägigen Vorwürfe als „Klatsch und Tratsch der Welt“ ab, von welchem sich die Kirche, deren Herr „die Welt überwunden“ habe, „nicht beeindrucken“ lasse.
Übergriffige Priester in den USA hart verurteilt
Benedikt war da schon weiter: Bereits zwei Jahre zuvor, beim Besuch in den USA, hatte er sich mit Missbrauchsopfern getroffen und übergriffige Priester hart verurteilt. Sodanos Gesäusel hingegen kam einer Aufklärungsverweigerung gleich; der Papst konnte es nur als Dolchstoß empfinden.
Doch dann holte Benedikt die Vergangenheit ein: Ein Gutachten von 2021 kam zu dem Schluss, dass er in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising in vier Fällen von sexuellem Missbrauch eines Priesters an Kindern und Jugendlichen Fehler gemacht habe. Per Brief entschuldigte sich Benedikt später.
Seine Gegner warfen ihm vor, er habe es nicht geschafft, die Vertuschung der Missbrauchsskandale durch die Kirche zu beenden. Benedikt konnte und wollte sich nie gegenüber der Kurie durchsetzen. Autorität lag ihm nicht. Wobei sich Benedikt bis zu einem gewissen Grad auch gerne schmeicheln – und offen ließ, was er wirklich wollte.
Als er 2014 gefragt wurde, warum er nach dem Rücktritt bei der Anrede Heiliger Vater geblieben sei, antwortete Ratzinger, eigentlich habe er nur Padre Benedetto genannt werden wollen. Er sei aber „zu schwach und müde gewesen, das durchzusetzen“.
Mit dem Tod Joseph Ratzingers endet eine Ära
Joseph Ratzinger, Benedikt XVI., emeritierter Papst, Padre Benedetto, ist nun also im Alter von 95 Jahren gestorben. Mit ihm, der seit Anfang der 60er Jahre die katholische Theologie prägte, der so viele und so grundsätzliche Bücher geschrieben hat, dass kein Priesteramtsstudent der Welt an ihm vorbeikommt, endet eine Ära. Besser: Eine neue hat begonnen. Mit Jorge Mario Bergoglio als Papst Franziskus, mit der Rückbesinnung auf den Geist der Zeit, in der Ratzinger selber angefangen hat. Da ist von der Katholischen Kirche ein Deckel geflogen, den Benedikt XVI. nicht einmal probehalber hatte heben wollen.