Das Urbild des "Denkers" hatte mit Philosophie nichts zu tun. Auf die Spannkraft der Muskulatur setzte Jean Baud und strengte die Kräfte seiner Vernunft nicht sehr an. Noch heute darf man den Fotos des Boxers und Ringers neidlos attestieren, wie prächtig proportioniert und vortrefflich trainiert der überhaupt gut aussehende Mann war. Indes trieb er sich unter Huren und Tagedieben herum - dass Auguste Rodin ausgerechnet ihn zum Modell für seine wohl berühmteste Skulptur wählte, konnte mithin ausschließlich an seinen physischen Vorzügen liegen. Näher stand dem großen Bildhauer der italienische Dichter Dante Alighieri. Freilich war der schon 561 Jahre tot, als Rodin den "Denker" fertigstellte. Mit Dantes "Göttlicher Komödie" hatte er sich lang auseinandergesetzt; von der ersten Station der Großdichtung, dem "Inferno" - der Hölle -, inspiriert, machte sich Rodin daran, ein Portal zur Stätte der ewigen Verdammnis zu entwerfen. Fast 200 Plastiken schuf er dafür, darunter den Denker. Mittig über den schweren Türflügeln hockt er nackt auf einem Stein, die Rechte am Kinn, und sinnt über Gott und Welt nach. In mehreren Ausführungen von unterschiedlicher Größe existiert dies singuläre Inbild eines gesunden Geistes in einem gesunden Körper, das zugleich ein Inbild ist für tiefernste Versenkung und unentrinnbare Einsamkeit. Fast lässt es vergessen, dass Auguste Rodin - der heute vor 175 Jahren in Paris zur Welt kam und 1917 in Meudon starb - vier Jahre später ganz gegensinnig eine vollendete Verkörperung schwebend erotischer Zärtlichkeit gestaltete: den "Kuss". Ganz ist das Paar, das die titelgebende Liebkosung tauscht, kommender Lust hingegeben und hat wohl gerade nichts sonst im Sinn. Hingegen scheint der resignierte "Denker" über dem Höllentor die letzte der drei philosophischen Grundfragen für sich beantwortet zu haben. "Was können wir wissen?", "Was sollen wir tun?", "Was dürfen wir hoffen?" - über den Eingang "zur Stadt der Trauer" hat Dante die Zeile gesetzt: "Lasst alle Hoffnung fahren."