Interview: "Ich muss einfach schluchzen"

Von Alexander Dick
"Aberwitzige Leidenschaft": Simon Rattle dirigiert demnäcst den "Tristan". Foto: dpa Foto: red

Man nennt sie in einem Atemzug:  Simon Rattle und Berliner Philharmoniker. Seit 2002 ist der britische Dirigent künstlerischer Leiter des legendären Orchesters. Eine Ära, die mit Ablauf von Rattles Vertrag 2018 auf dessen eigenen Wunsch zu Ende gehen wird. Sein Nachfolger: Kirill Petrenko. Bei den Osterfestspielen der Berliner Philharmoniker in Baden-Baden wird Rattle  Richard Wagners Jahrhundertoper „Tristan und Isolde“ dirigieren.

 
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Sir Simon, Sie haben sich so viele Tage mit dieser außergewöhnlichen Musik beschäftigt: Was macht das mit Ihrem Verstand und mit Ihrem Körper?

Simon Rattle: Mit dem Körper – die Musik erschöpft! Eine Form von Erschöpfung, die jeden daran hindert, schlafen zu wollen. Natürlich liebe ich das Quellenstudium und auch Wagners Handschrift zu sehen, auf die er so stolz war. Man könnte sein Frühstück darauf zubereiten, sie ist so wunderschön. Und dann kommt man zum „Tristan“ und es wird sichtbar, er hat „Tristan“ nicht bloß eilig hingeschrieben, er war in großer Hast, ihn zu vollenden. Über Wordsworth (Anm. d. Red.: William Wordsworth, 1770–1850, englischer Dichter der Romantik) wurde einmal gesagt, er schrieb seine Gedichte nicht, er erbrach sie. Sie kamen mit aberwitziger Leidenschaft heraus. Diese Geschwindigkeit ist auch bei „Tristan“ spürbar. Was er für Orchester und Sänger schrieb, ist absolut unrealistisch. In Wien gab man mir vor einigen Jahren Mahlers Dirigierpartitur. Mit all seinen handschriftlichen Eintragungen. Einige davon waren faszinierend, ungewöhnlich und hilfreich, manchmal wirken seine Einträge zur Dynamik wie eine Art unwirkliche Orchestration. Auch in Carlos Kleibers Partitur ist so viel Information enthalten. All das nutze ich und ich nutze meine Erfahrung – aber es ist alles nur Teil des Mosaiks, das wir zusammensetzen wollen, um ein bisschen besser zu scheitern. (lacht) Natürlich werden wir damit nie fertig sein.

Ich liebe die „Tristan“-Aufnahme von Carlos Kleiber. Aber soweit ich weiß, war er damit nicht zufrieden …

Rattle: Wissen Sie, er war nicht Mick Jagger. Er war ein Mann, der niemals mit irgendetwas zufrieden war.

"Ich hatte das Gefühl, ich muss schluchzen"

Es ist so einfach, sich von der Tristan-Musik gefangen nehmen zu lassen. Aber es ist so schwierig zu beschreiben, wie sie funktioniert und was sie mit uns macht. Sehen Sie das auch so?

Rattle: Man kann das Rauschhafte dieser Musik nicht genug betonen. Die Menschen im 19. Jahrhundert sind davon verrückt geworden. Sie haben buchstäblich ihren Verstand verloren. Ich erinnere mich, als ich „Tristan“ das erste Mal dirigierte – vergangenes Jahrhundert in Amsterdam: In der Generalprobe hatte ich das Gefühl, ich muss einfach aufhören – und schluchzen. Das richtet dieses Musikstück an. Ich werde oft krank, wenn ich Wagner-Opern dirigiere. So, dass ich denke, wenn ich noch eine solche Produktion mache, muss ich um meinen Verstand fürchten. Das ist Teil dieser Kraft!

Glauben Sie, es wird zu viel Wagner gespielt in den Opernhäusern?

Rattle: Ich weiß nicht. Es ist doch eine großartige Gelegenheit, ihn zu hören! Ich bin in England aufgewachsen und zu dieser Zeit war das noch ein kolossales Unterfangen. Auf der anderen Seite: Warum sollten sie nicht? Großartige Kunst überlebt alles. Zu klagen ist einfach. Man kann doch heute jede Art von Musik über Spotify kriegen. Und wer sind wir zu sagen, das sollte nicht so sein?

Sie erwähnten Ihren ersten Tristan in den 1990ern. Wo sind die Unterschiede zu Ihrer heutigen Auffassung, gibt es viele?

Rattle: Ja, mit Sicherheit! Jeder muss es einmal tun – das erste Mal. Das erste Mal eine Wagner-Oper zu dirigieren ist – nun, es ist immer ein „work in progress“. In Amsterdam mit dem Rotterdamer Orchester, das noch nie „Tristan“ gespielt hatte, hatten wir unglaublich viel Zeit, 30 Orchesterproben insgesamt. Heute ist das kaum noch zu glauben! Daran haben mich auch die Musiker erinnert. Und es gab so viel Arbeit! Witzig war, als das Berliner Orchester mich zu Beginn der Proben jetzt fragte: „Aber dieses Stück ist doch einfacher als der Rosenkavalier, oder?“ Ich lachte und antwortete: „Ich glaube nicht, dass ich jemals die Worte einfach und Tristan gemeinsam in einem Satz gehört habe.“

Gibt es so etwas wie ein „Orchestergedächtnis“ in diesen großen Klangkörpern? Dass junge Musiker, auch wenn sie ein Stück noch nicht gespielt haben, von anderen Musikern lernen?

Rattle: Auf jeden Fall. Als wir in Berlin begannen, den dritten „Tristan“-Akt zu proben, dachte ich: O ja, das ist der Klang! Alle Orchestermusiker profitieren vom Gedächtnis und den Denkweisen der Kollegen um sie herum. Noch ausgeprägter, finde ich, ist das bei den Wiener Philharmonikern, wo vieles öfter wiederkehrt. Bei den Berlinern bedeutet 15 Jahre zuvor eine sehr lange Zeit. Sogar wenn du dabei warst.

Obwohl Sie so viel Oper machen, waren Sie nie Chefdirigent an einem Opernhaus. Warum eigentlich nicht?

Rattle: Vor allem weil ich anderes gemacht habe. Im Grunde habe ich jetzt erst mein zweites Orchester und bin schon fast im Ruhestand. Ich hatte Birmingham und ich hatte Berlin. So vieles aus dem Opernrepertoire war nicht mein Ding. Ich liebe es, Opern anzuhören. Ich könnte mich allerdings selbst ohrfeigen, dass ich nicht früher Puccini dirigiert habe. Als ich hier „Manon Lescaut“ machte, merkte ich, wie mir das gefehlt hatte. „Tosca“ kann ich kaum erwarten. Auch Verdi will ich noch machen – wenigstens ein oder zwei Opern. Ich glaube, um ein wirklich großer Operndirigent zu sein, muss man so wie Carlos Kleiber, Jimmy Levine oder Tony Pappano sein. Man muss im italienischen Repertoire ebenso zu Hause sein wie deutschen und französischen.

Dieser „Tristan“ ist Ihr viertes Opern-Event bei den Osterfestspielen Baden-Baden. 2017 werden Sie noch „Tosca“ machen. Wie sind denn Ihre Erfahrungen mit vier Jahren Osterfestspielen hier? Und was ist anders als in Salzburg?

Rattle: Oh, das ist eine schwierige Frage. Ich mochte Salzburg ungemein, das war eine ganz spezielle Sache. Was ich hier schätze, ist einfach die Kollegialität, die Fürsorge, die Willkommenskultur in der gesamten Stadt. Man fühlt sich hier wie in einer großen Familie. Eines der großen Probleme in Salzburg für uns – in musikalischer Hinsicht – war, dass wir eine Opernproduktion nach all den Proben nur zwei Mal spielten. Aber nicht hintereinander, sondern mit einer großen Pause zwischen den Vorstellungen. Diese Struktur erschwerte die Arbeit ungemein. Das Salzburger Große Festspielhaus ist wunderbar. Das ganze Bühnenpersonal macht einen tollen Job und das Haus zu einem der großartigsten auf der Welt. Aber die Flexibilität hier ermöglicht uns vier „Tristan“-Abende“ und dazu auch noch mehr Aufführungen in Berlin. So kommt man tiefer in das Stück hinein. Es herrscht hier auch ein ganz anderes Lebensgefühl vor. Leute, die aus dem Norden kommen, erwartet hier ein ganz anderes Deutschland. Die Leute nehmen sich Zeit. Für viele von uns ist das auch ein Lernprozess. Es ist schon eine ziemliche Sache, ein neues Festival auf die Beine zu stellen. Und es ist nicht immer leicht, so ein riesiges Theater zu füllen. Aber ich denke, wir sind hier sehr glücklich.

Gibt’s denn Opern, die Sie gerne noch dirigieren würden in Baden-Baden ab 2018?

Rattle: Das hängt davon ab, ob mich jemand fragt. Bislang hat es hier noch keiner getan … (lacht) Ich habe spannende Pläne mit der Berliner Staatsoper und auch ein, zwei Opernprojekte mit dem London Symphony Orchestra. Schauen wir mal.

INFO: Osterfestspiele Baden-Baden: „Tristan und Isolde“ (Dirigent: Simon Rattle, Inszenierung: Mariusz Trelinski), 19., 22., 25., 28. März, Weitere Infos, auch über Konzerttermine mit Simon Rattle, unter www.festspielhaus.de und www.berliner-philharmoniker.de