Interview: Ist Nächstenliebe out?

Von Ulrike Sommerer
Symbolfoto: Tobias Kleinschmidt/dp Foto: red

Respekt, Aufmerksamkeit und ein gutes Miteinander: Kann man Nächstenliebe üben? Und warum suchen die Menschen sie in den östlichen Traditionen und nicht in der Kirche? Wir haben einen Religionswissenschaftler und eine Lehrerin für Stressbewältigung gefragt.

 
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Stefan Kurth, Bayreuther Religionswissenschaftler, Yogalehrer und Referent für Spiritualität im Alltag und die Münchnerin Britta Hölzel, Lehrerin für Stressbewältigung, suchen schon im Vorfeld nach Antworten.

Warum soll ich denn meinen Nächsten lieben?

Britta Hölzel: Es ist doch offensichtlich, dass eine Welt lebenswerter ist, in der wir miteinander mit Liebe und Fürsorge umgehen. Jeder Mensch wünscht sich, und sollte genauso ein Recht darauf haben, zufrieden zu sein.

Kurth: „Das Gebot der Nächstenliebe wird bis heute sicherlich von vielen Menschen als eine der zentralen Botschaften der Bibel empfunden. Fordert allerdings eine religiöse oder andere Autorität von mir Nächstenliebe als eine Pflicht ein, so kann aus einem Ideal schnell ein moralischer Zwang und damit eine kolossale Überforderung werden. Denn „Lieben“ und „Müssen“ passen ganz bestimmt nicht zusammen.

Handeln aus Nächstenliebe gehört nach meiner persönlichen Überzeugung zu den freiesten und befreiendsten Taten, die ein Mensch begehen kann. Was aber kann Nächstenliebe in der heutigen Zeit bedeuten? Ich glaube, der unmittelbarste Zugang liegt in der Frage: Wie kann ich mit meinem Handeln und meinem Leben einen aufbauenden und förderlichen Beitrag für andere leisten? Ihre ganz individuell und immer neu zu findende Antwort hängt davon ab, welche Ideale des Menschseins und des Zusammenlebens mir kostbar sind. Sie hängt ebenso von meiner Bemühung ab, meine Mitmenschen immer neu wahrzunehmen und auch unsere weiteren Lebenszusammenhänge zu verstehen. Und drittens erfordert sie die Hochachtung vor der Würde des anderen, damit ich ihm oder ihr nicht meine Ideale überstülpen will und ihm damit seine Freiheit raube.

Warum ist sich immer mehr jeder selbst der Nächste?

Kurth: Mit dem „immer mehr“ ist es so eine Sache. Lesen Sie die Klagen berühmter Autoren der griechischen Antike über den Verfall der Jugend: Man könnte glatt meinen, das hätte jemand hier und heute so ausgesprochen. Trotzdem ist auch mir der kritische Blick auf unsere Kultur und Lebensweise wichtig. Wenn uns der Zeitgeist verkündet, die höchste Freiheit des Menschen sei der grenzenlose Waren- und Erlebniskonsum und die höchste Erfüllung liege im Ausleben der eigenen Subjektivität, sehe ich darin im wörtlichen Sinne eine Armseligkeit und Beziehungslosigkeit, die sich auf sehr unmittelbare Weise destruktiv gegen unsere Umwelt und unsere Mitmenschen richtet.

Hölzel: In uns sind nun einmal auch ältere, phylogenetisch angelegte Aspekte enthalten, die uns um das eigene Überleben kämpfen lassen. Und diese Aspekte kommen stärker zum Tragen, wenn Angst und Unsicherheit überwiegen. Dafür ist es nicht entscheidend, ob tatsächlich Anlass zur Angst gegeben ist. Sondern auch Stress, Vereinsamung und Selbstentfremdung lassen uns auf solche Muster ‚zurückfallen‘. Leider greift in unserer gegenwärtigen Gesellschaft dieser Stress gerade stark um sich.

Wie kann ich mein Herz und meinen Geist beeinflussen, dass sie liebevoller und aufmerksamer werden?

Kurth: Die grundlegenden Aspekte einer solchen Kultivierung sind aus meiner Sicht Studium und Übung. Man will ja heute oft gerne drauf los üben, ohne sich mit theoretischem ‚Ballast‘ herumzuschlagen, hinter dem man vielleicht eine weltanschauliche Bindung vermutet. Ein Üben ohne Auseinandersetzung mit dem zugrundegelegten Menschenbild aber ist blind und führt daher sogar eher zu einer Bindung an etwas, dessen Voraussetzungen und Folgen man nicht überschaut. Man kann seine Aufmerksamkeit und empfindende Anteilnahme auf vielfältige Weisen schulen. Einige Möglichkeiten werde ich in meinem Vortrag praktisch vorstellen. Man kann zum Beispiel üben, seine Sinneswahrnehmung mit gesteigerter Bewusstheit auf ein selbst gewähltes Objekt beziehungsweise Gegenüber zu richten

Hölzel: Durch Meditationsübungen können wir unsere Ausrichtung auf mehr liebende Güte und Achtsamkeit stärken. Es ist dafür auch entscheidend, den eigenen Geist besser zu verstehen und Einsicht in die Funktionsweisen zu gewinnen. Denn so können wir Muster erkennen, die den positiven Eigenschaften entgegenstehen und von ihnen ablassen.

Warum suchen zunehmend mehr Menschen ihr Heil in der Spiritualität?

Kurth: Religion verliert in der Gesellschaft an Bedeutung. Allerdings lassen sich auch viele Varianten eines neuen Interesses an religiöser Sinnorientierung und Lebensgestaltung beobachten. Viele Menschen fühlen sich heute frei, sich etwas aus dem breiten Angebotsspektrum religiöser Angebote auszuwählen. Das leitende Auswahlkriterium ist dann nicht, was eine Religionsgemeinschaft oder Tradition ihnen vorgibt, sondern ihr eigenes subjektives Maß: was sie als authentisch empfinden, was ihren Bedürfnissen entgegenkommt und sich für sie im Lebensalltag bewährt.

Die Kirche mag diese Entwicklung beklagen, aus religionswissenschaftlicher Sicht kann ich sie weder als ‚gut‘ noch als ‚schlecht‘ bewerten. Sie spiegelt schlichtweg unsere gesellschaftlich verbreiteten Autonomie- und Subjektivitätsansprüche wider. Denken Sie nur an Ernährungspräferenzen oder den freimütigen, oft auch sehr experimentellen Umgang mit schulmedizinischen und alternativheilkundlichen Behandlungsformen von Bachblüten bis Handauflegen. Auch kirchlich sehr verbundene Christen räumen sich heute unverblümt die Freiheit ein, nur an das zu glauben, was sie auch selbst für richtig halten, und wenn ihnen ihr Gemeindepfarrer gegen den Strich geht, sagt mancher: Da gehe ich lieber in die Nachbargemeinde.

Viele orientieren sich an östlichen Traditionen – warum nicht an unserer christlichen?

Kurth: Wir schätzen heute in vielen Lebensbereichen, dass uns eine breite Vielfalt kultureller Formen und Möglichkeiten aus (fast) allen Teilen der Welt offensteht. Wenn es um die Gestaltung des eigenen Lebensstils geht, fühlen sich viele Menschen heute nicht mehr an überkommene Traditionen gebunden. Eine gewisse religionswissenschaftliche Pointe liegt übrigens darin, dass so Manches, das wir als ‚uralt‘ und ‚östlich‘ verorten, so alt und östlich gar nicht ist. Auf andere Weise ließe sich auch zeigen, die Richtungen buddhistischer Meditationsübungen, die heute bei uns populär sind, sehr moderne Formen sind, die starke westliche Einflüsse zeigen.

Hölzel: Die östlichen Traditionen, und hier besonders die Buddhistische Psychologie, bieten eine sehr systematische, auch rational zugängliche und erfahrbare Beschreibung der Funktionsweisen des Geistes, die vielen Menschen einen leichteren Zugang ermöglichen als die stärker auf Glauben ausgerichteten Traditionen.

Muss sich die Kirche ändern, um Menschen wieder Seelenheil zu geben?

Kurth: Um die Frage einmal mit dem nüchternen Blick des Wissenschaftlers anzugehen: Religionssoziologisch und religionswissenschaftlich wird unsere religiöse Landschaft gerne als ein Markt beschrieben. Da gibt es eine Fülle von Anbietern religiöser Produkte und Dienstleistungen, die miteinander sowie mit säkularen Alternativen um Kunden (Anhänger, Mitglieder, Teilnehmer, Käufer) konkurrieren. Es entscheidet letztlich die Nachfrage darüber, welche religiösen Angebote eine Zukunft haben.

Die Kirchen haben durchaus wahrgenommen, dass viele Menschen nach religiösen Orientierungen suchen, die die körperliche Ebene unseres menschlichen Daseins positiv einbeziehen – sei es auf dem Gebiet des Beziehungslebens, oder im Feld von Krankheit und Heilung. Und sie haben darauf reagiert und viele neue Angebote in die Gemeinden aufgenommen. Ich habe nicht wenig gestaunt, als meine Schwiegermutter mir erzählt hat, dass sie beim Katholischen Frauenbund Qi Gong praktiziert! Darüber hinaus hat sich innerhalb der Kirchen eine Reihe von Theologen wieder auf die mystischen und spirituellen Traditionen des Christentums besonnen und sie für die Gegenwart neu definiert. Auch das Christentum unserer Großkirchen befindet sich also gegenwärtig in einem sehr dynamischen Veränderungsprozess!

Was ist Ihr Tipp, um mit heiterer Gelassenheit durch den Alltag zu gehen?

Kurth: Raffen Sie sich auf, etwas zu tun, das Sie eigentlich sehr gerne tun, aber wozu Sie gerade zu bequem sind. Unsere gemütshafte Trägheit und Unlust zugunsten einer Sache zu überwinden, die uns etwas bedeutet, hellt unser Gemüt auf und schenkt uns sehr schnell mehr Leichtigkeit. Erinnern Sie sich an etwas, das Ihnen kostbar ist, und pflegen Sie es regelmäßig, weil es Ihnen kostbar ist. Fassen Sie den Mut, etwas zu tun, das Sie für richtig und wichtig erachten – nicht um ihrer eigenen Person willen, sondern um einer Sache beziehungsweise um anderer willen. Das stärkt und befreit von kleinlichen Sorgen um uns selbst. Schauen Sie für Momente mit ruhiger Aufmerksamkeit und Anteilnahme auf Ihren Partner, Ihr Kind, Ihren Nächsten. Entdecken Sie an ihm Schönes und erfreuen Sie sich daran. Den anderen wieder neu wahrzunehmen, fördert eine Entspannung und die Empfindung der nahen Verbundenheit.

Hölzel: Immer wieder Momente zu finden – auch inmitten des Alltags – um innerlich anzuhalten, vom dauernden geistigen Tun-Modus abzulassen, und sich mit der Erfahrung des einfachen ‚Seins‘ zurück zu verbinden, um auf diese Weise mit mehr Wachheit und Präsenz am eigenen Leben teilhaben zu können. Dadurch ergeben sich auch mehr Dankbarkeit und Wertschätzung für das Leben.

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Info: Die Vortragsreihe findet im Evangelischen Bildungswerk, Richard-Wagner-Straße, statt. Die Termine: Donnerstag, 10. März, 19 Uhr: Die vier himmlischen Geisteszustände: Buddhistische Praktiken zu Liebe, Mitgefühl und Gelassenheit. Mittwoch 13. April, 19 Uhr: Lebensideale in den Alltag tragen: Impulse aus Yoga und Anthroposophie. Donnerstag, 12. Mai, 19 Uhr: Ich will ins Meer der Liebe mich versenken: Spirituelle Wege in christlicher Tradition. Mittwoch, 1. Juni, 19.30 Uhr: Kann man heilsame Geisteszustände üben? Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften.

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