Mit ihrer Hilfe stärkte sie in Reittherapiestunden ihren Rumpf so gut, dass sie 2019 mit einer computergesteuerten Gelenkorthese erste Gehversuche machen konnte. "Das war ein harter Prozess", sagt sie. Aber es habe sich gelohnt. "Es ist so ein großes Geschenk, aufstehen und auf Augenhöhe mit anderen reden zu können", betont sie.
Rektorin: "Haben das als Chance gesehen"
Trotz aller Widerstände setzte sie ihr Studium fort. "Ich hatte mir überlegt, ob ich statt Sport ein anderes Fach wählen oder Richtung Sporttherapie gehen sollte." Aber sie wollte dann doch nicht ihren Traum aufgeben, sie wollte mit Kindern arbeiten und Sport unterrichten. Während ihres Studiums seien ihr viele Steine in den Weg gelegt worden, sagt sie. Aber sie biss sich durch. Ihre Masterarbeit schrieb sie über ihren eigenen Fall: Wie man die Gangqualität durch therapeutisches Reiten sportmedizinisch verbessern kann. Ihr Referendariat schloss sie mit der Note 1,9 ab, seit zwei Jahren arbeitet sie als Sport- und Mathematik-Lehrerin an der Grundschule Nordholz. Ihre Verbeamtung steht kurz bevor.
Die Grundschule ist seit 2004 inklusiv, lange bevor dies in Niedersachsen verpflichtend wurde. Gedacht wurde dabei vor allem an Kinder mit körperlichen und motorischen Einschränkungen. Eine Lehrkraft im Rollstuhl habe die Schule vor Sina Wiedemeier nie gehabt, sagt Schulrektorin Sabine Peters. Als sie Wiedermeier kennengelernt habe, habe sie jedoch keinerlei Bedenken gehabt, sie im Sportunterricht einzusetzen. "Im Gegenteil: Wir haben das als Chance gesehen zu schauen, wie wir den Sportunterricht an die inklusive Schule anpassen und verbessern können", sagt Sabine Peters. Auch aus der Elternschaft habe sie nicht eine Stimme gehört, die geäußert hätte, dass es schwierig werden könnte. "Alle sind sehr positiv gestimmt", betont Peters.
Schulen für Lehrkräfte im Rollstuhl oft ungeeignet
Sina Wiedemeier fühlt sich von ihrer Schulleitung und dem Kollegium denn auch sehr gut unterstützt. Sie würde sich wünschen, dass mehr Menschen mit Beeinträchtigungen als Lehrkräfte arbeiten könnten. Dies sei aber nur an Schulen mit Barrierefreiheit möglich. Und daran mangelt es ihrer Erfahrung nach noch erheblich. Die ersten Bewerbungen nach ihrem Referendariat an diversen Grundschulen in ihrem Landkreis musste sie wieder zurückziehen, weil keine einzige für Lehrkräfte im Rollstuhl geeignet war.
Wenn Sina Wiedemeier eine Klasse neu übernimmt, erklärt sie kindgerecht, warum sie im Rollstuhl sitzt beziehungsweise eine Orthese trägt. "Und dann ist das Thema durch. Die Kinder machen null Unterschied, ob ich gehe oder sitze", betont sie. Sie sei sogar schon von Eltern gefragt worden, ob sie einen Unfall gehabt und sich ihr Bein gebrochen habe. "Die Kinder erzählen zu Hause nicht, dass ihre Lehrerin im Rollstuhl sitzt. Für sie ist das gar kein Thema." Im Gegenteil, im Rollstuhl könne sie im wahrsten Sinne des Wortes mit den Kindern auf Augenhöhe sprechen.