Haydn gegen Achtelfinale

Von Gordian Beck
Vier Jahreszeiten, eine Dirigentin, drei Vokal-Solisten: Maike Bühle am Pult, Judith Spiesser (Sopran), Tobias Hunger (Tenor) und Alban Lenzen (Bass) in der Stadtkirche. Foto: Andreas Harbach Foto: red

Ein Konzert, und das, während die DFB-Elf im EM-Viertelfinale antritt? Gewagt. Geht aber - wenn das Werk so viel Ausstrahlung hat wie Haydns "Jahreszeiten". Warum unser Rezensent  in der Stadtkirche den Fußball wenigstens dieses eine Mal vergessen konnte.

 
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Leises Kopfschütteln, am Sonntagabend vor der Stadtkirche, kurz vor 19 Uhr. Wer denn da seitens des Veranstalters, der Hochschule für evangelische Kirchenmusik, geschlafen habe? Oder ob man bewusst die Kollision mit dem landesweiten Event schlechthin, der Fußballeuropameisterschaft, in Kauf genommen habe? Gemäß dem Motto: Eine Aufführung von Joseph Haydns „Jahreszeiten“ zieht immer, egal ob Fußball oder nicht. Rückblickend haben die Organisatoren in ihrem Optimismus Recht behalten. In der Stadtkirche war das Hauptschiff gut belegt, allein in den Seitenschiffen blieb so manche Reihe unbesetzt. Es ist daher müßig, zu spekulieren, welchen Einfluss der rollende Ball auf die Besucherzahl hatte. Tatsache ist jedoch, dass diejenigen, die trotz Fußball den Weg in die Stadtkirche fanden, ihr Kommen offenkundig nicht bereut haben. Sie überschütteten die Akteure nach zwei als kurz empfundenen Stunden mit langanhaltendem, tosendem Applaus.

Zu recht, denn diese Interpretation der „Jahreszeiten“ bot alles, um den Konzertbesuch zu einem rundum beglückenden Erlebnis zu machen. Was vor allem daran lag, dass ein spür- und hörbarer Energiefluss durchgehend gegeben war. Das ist gerade gegen Ende dieses Oratoriums hin durchaus anspruchsvoll, denn gerade im „Winter“ dominieren, zumindest im ersten Teil desselben, fahle Farben und langsame Tempi. Hier Spannungsbögen aufzubauen und auch durchzuhalten, ist alles andere als einfach. Insofern kann man vor der Leistung der Dirigentin des Abends, Maike Bühle, nur den Hut ziehen. Wie sie auch noch nach fast zwei Stunden Chor, Orchester und Solisten befeuerte, die Konzentration hochhielt und dabei ihre musikalische Linie nie aus den Augen verlor, hatte Klasse.

Wunderschöne Bilder

Der Aufwand, den sie am Pult dafür betrieb, war entsprechend hoch. Doch insbesondere Orchester und Chor profitierten davon. Denn dieses Oratorium lebt von musikalischen Stimmungsbildern. Je farbiger, je kontrastreicher, je aussagekräftiger diese Bilder sind, desto besser. Das verlangt von allen Beteiligten hohe Konzentration, aber auch den Willen, mutig zu gestalten. Und da wiederum sind Chor und Orchester – weit mehr als die Solisten – auf Impulse seitens des Dirigenten angewiesen. Bühle gab sich hier keine Blöße, schritt mutig mit durchaus flotten Tempi voran und forderte von Chor und Orchester unbeirrt kräftige Farben ein. Die der Konzertchor der Hochschule für evangelische Kirchenmusik sowie die Vogtland-Philharmonie prompt präzise lieferten. Auf diese Weise gelangen, der heiklen Akustik in der Stadtkirche zum Trotz, wunderschöne musikalische Bilder.

Was natürlich auch den drei Solisten des Abends, Judith Spiesser (Sopran), Tobias Hunger (Tenor) sowie Alban Lenzen (Bass) lag. Zum einen, weil die Drei über jeweils höchst eigene Klangfarben verfügen, zum anderen, weil ihre Stimmen jeweils, vor allem die der beiden Herren, enorm wandlungsfähig sind. Das wiederum gibt Spielraum, um Atmosphäre zu schaffen. Den die drei jeweils für sich bestens zu nutzen wussten. Wie etwa das einleitende Rezitativ zum „Sommer“. Hunger, der eigentlich über einen hell tragenden, elegant geführten Tenor verfügt, malte hier die Morgenstimmung derart plastisch aus, dass man die Kühle seines bleigrauen Szenarios fast schon an den Händen zu spüren meinte. Grandios! Oder die Bassa-Arie „Erblicke hier, betörter Mensch“, die quasi den weltlichen Abschluss des Oratoriums darstellt, bevor in einer Art Coda die Allmacht und Güte Gottes beschworen wird. Lenzen formt mit seinem voluminösen wie obertonreichen Bass daraus eine hochdramatische Abrechnung mit den Träumen und Hoffnungen des Menschen. Chapeau!

Fußball? Konnte man vergessen!

Judith Spiesser hatte da weniger Gestaltungsmöglichkeiten; Haydn bemisst der Solistin nämlich leider weit knapperen Raum zu als den beiden Herren. Nichtsdestotrotz, der kecke Tonfall, den Spiesser ihrem außergewöhnlich hellen und beweglichen Sopran in dem Singspielschlager „Ein Mädchen, das auf Ehre hält“ beimischte, war durchaus beeindruckend.

Und so bleibt als Fazit: Man hat an diesem Abend in der Stadtkirche schnell vergessen, dass anderswo Fußball zelebriert wurde. Auch wenn so manch Konzertbesucher – etliche entsprechend geschminkte Wangen zeugten davon – den Kick wohl auch gerne gesehen hätte.

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