In vielem ähneln sich der Fall Gustl Mollath und der Fall Ulvi. In beiden Fällen wird das Verfahren wieder aufgerollt, in beiden Fällen sind die Urteile umstritten und in beiden Fällen stehen die Gutachter unter Dauerbeschuss: Bei Mollath, der behauptet, sieben Jahre zu Unrecht in der Psychiatrie gesessen zu haben, waren sie verschrien als „Schlechtachter“, die nur „Gefälligkeitsgutachten“ abgegeben hätten, und das natürlich, ohne den Patienten untersucht zu haben. Einer dieser Gutachter war Kröber. Der Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Charité in Berlin, der Papst der psychiatrischen Gutachten vor Gericht, bestätigte 2008: bei Mollath liege tatsächlich eine wahnhafte Störung vor. Kröber musste den Patienten damals nach Aktenlage begutachten, weil Mollath sich beharrlich weigerte, mit ihm zu sprechen.

Ulvi dagegen sprach mit ihm. Viermal saßen die beiden zusammen, der Beschuldigte und sein Gutachter. Immer wieder sprachen sie über Ulvis Geständnis. Kröber kam zum Ergebnis: „Es besteht kein Anhalt dafür, dass der Inhalt des Geständnisses von Herrn Kulac durch die vernehmenden Kriminalbeamten suggeriert wurde. Dies ergibt sich daraus, dass in Ermangelung eines der Polizei bekannten Tatortes und eines aus der Untersuchung des Opfers ableitbaren Tatgeschehens die Kriminalbeamten selbst kein unterstelltes Tatgeschehen hatten, das sie Ulvi hätten einreden können.“ Auf Deutsch: Weil die Polizisten selbst keine Ahnung hatten, was mit Peggy passiert sein könnte, konnten sie das Ulvi auch nicht einflüstern.

Und genau dieses Ergebnis will ihm Ulvis Anwalt Michael Euler „um die Ohren hauen“. Denn seiner Ansicht nach hat Kröber einen fundamentalen Fehler gemacht: Er hat „nur“ geschaut, ob das Geständnis von Ulvi gelogen ist. Kröbers Fazit: Nein. Erstens könne man Ulvi nicht leicht etwas einreden, zweitens sei Ulvis Erzählung „erlebnisorientiert“ und drittens habe Ulvi sein Geständnis in allen wesentlichen Teilen wiederholt – und das trotz seiner niedrigen Intelligenz.

Allerdings, darauf weist Euler mit Nachdruck hin, hat Kröber eines nicht gemacht: Er hat sich nicht angeschaut, wie Ulvis Geständnis zustande kam. Kröber hat nicht die vielen Vernehmungen Ulvis vor seinem Geständnis angeschaut. Hätte er dies, er hätte einige Versatzstücke gefunden, die später im Geständnis vorkamen. Schon am 23. Mai, zwei Wochen nach dem Verschwinden von Peggy, kommt ein solches Versatzstück vor: Peggy habe Angst gehabt. Warum? „Dass ich sie anlange.“ Ist sie ausgerissen? „Ja.“ Danach will er eine geraucht haben. Die Flucht des Mädchens aus Angst vor ihm wird er mehr als ein Jahr später in sein Geständnis einbauen, auch die Zigarette. Auch im August, 2001, lange bevor Ulvi überhaupt unter Mordverdacht geriet, kommen solche Versatzstücke seines späteren Geständnisses: Als er eine Vergewaltigung von Peggy beendet hatte, „hat sie mich weggestoßen.“ „Sie hat ihre Hand genommen und mich gegen die Brust gestoßen und mich weggedrückt. Hingefallen bin ich nicht. Aber sie ist dann weggelaufen.“ Auch der Stoß des Mädchens vor seine Brust wird sich in seinem Geständnis wiederfinden.

Oder diese Aussage Ulvis vom September 2001, bis zu seinem Geständnis im Juli sind es noch Monate: „Sie ist vom Friedhof raufgekommen. Wie sie mich gesehen hat, ist sie vor mir ausgerissen und Richtung Hermannsruh gelaufen. Ich bin ihr aber langsam hinterher gegangen. Ich wollte mich bei ihr entschuldigen, weil ich sie am Donnerstag ja vergewaltigt hatte.“ Ulvi wird in seinem Geständnis später etwa das Gleiche erzählen, wie Peggy aus Angst vor ihm den Weg am Friedhof vorbei vor ihm herrennt.

Wie sind diese Aussagen zustande gekommen? Haben die Ermittler Ulvi diese „eingeflüstert“ oder durch ihre Fragestellungen gleich die Antwort mitgeliefert? Die Kritiker Kröbers sagen, die Ermittler hätten die Antworten in ihren Fragen gleich mitgeliefert. Liest man sich aber die Vernehmungen durch, fällt auf: Ulvi widerspricht. „Hast du ihr den Mund zugehalten?“ Nein. Immer wieder verneint er. Das ist laut Günter Köhnken schon der Weg zu einer „falschen Aussage“: Das häufige Anbieten einer Möglichkeit. So lange, bis der „Geständige“ das für wahr erachtet. Wenn er dann „gesteht“, lügt er nicht. Er hält die Erinnerung, eigentlich eine Scheinerinnerung, für real. Bei Ulvi soll das der Fall gewesen sein.

„Lüge ist nicht das Thema“, sagt Günter Köhnken (65), Psychologe und Aussagespezialist aus Kiel. Suggestion, das Einflüstern von Sachverhalten, funktioniere nicht nur mit Suggestivfragen. Die Polizisten bieten „Möglichkeiten“ an. Etwa „Hast du ihr den Mund zugehalten?“ Vernehmungen bestünden, sagt Köhnken, nicht nur aus zwei oder drei Fragen, „die werden öfter wiederholt“. Mit der Zeit könnte das Memory-Distrust-Syndrom auftreten: „Die Leute fangen an, an ihrem eigenen Gedächtnis zu zweifeln und denken, dass es so gewesen sein könnte.“ Außerdem sei Ulvi intelligenzgemindert und „mit ziemlicher Sicherheit hat er die Erfahrung gemacht, das Aussagen von ihm sich später als unrichtig erwiesen haben“. Ulvi sei wahrscheinlich anfälliger für Zweifel an seinen eigenen Erinnerungen.

Laut Rechtsanwalt Euler drängen sich „ganz entscheidende Fragen“ auf: „Warum kann Herr Kulac weder die Bekleidung, noch den auffälligen Schulranzen am Tattag beschreiben. Letzteren will er drei Tage bei sich zu Hause aufbewahrt haben, bis er ihn nicht mehr hätte anschauen können und man ihn „auf einer Mülldeponie entsorgte.“

Der Polizei genügten diese Angaben, zumal sie ein Geständnis enthielten und Ulvi bei dieser Tatversion (eine von vielen) das Gegenteil nicht bewiesen werden konnte. „Von einem Sachverständigen darf man aber eigentlich erwarten, dass er sich mit solchen Fragen auseinandersetzt“, sagt Euler. In dieser Woche wird er hierzu befragt.

Wenig später tritt der Chef der ersten Soko in den Zeugenstand. Er ist sich sicher: "Das ist erlebte Geschichte, was der Angeklagte geschildert hat."

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