Goethes Iphigenie auf Tauris als Thriller

Von Wolfgang Karl
Ein Freund, ein guter Freund: Pylades (Sascha Retzlaff) kümmert sich um Orest (René Carrié). Foto: Regina Fettköther/red Foto: red

"Iphigenie auf Tauris" gehört zur Schullektüre. Und genießt schon deswegen den Ruf eines nur bedingt spannenden Stücks. Wie man aus Goethes Psycho-Drama tatsächlich fast so etwas wie einen Thriller machen kann, zeigt die Studiobühne.

 
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Überall Blut, wie in einem Schlachthaus sieht es aus. In dicken Bahnen ist es die Wand hinabgelaufen und eingetrocknet. Ein Mahnmal, für den stillgelegten Brauch des Menschenopfers. Stillgelegt, wohlgemerkt, nicht wirklich auf alle Zeiten abgeschafft. Die Barbarei lauert in dieser Inszenierung von „Iphigenie auf Tauris" überall unter der klassisch-kühlen Oberfläche des gedrechselten Wortwechsels.

Dominik Kern ist es gelungen, ein Stück spannend zu gestalten, in dem an sich nicht viel passiert. Und interessanterweise muss er dazu nicht einmal die Dialoge auf irgendeine Essenz eindampfen. Kern lässt Goethe Goethe sein, Kürzungen fielen behutsam aus. Kern fragt: Was heißt es, Opferpriesterin sein? Es bedeutet, Blut zu vergießen. Womit Michael Bachmanns  Bühnenbild  begründet wäre. Zivilisation ist nie fertig, ist nie ein sicherer Zustand oder gar Abschluss. Es ist immer das Ziel eines Weges. Und immer bedroht.

Eine bewegliche Leinwand dient als Projektionsfläche, öffnet und schließt Gänge, die im Hintergrund liegen. So wirkt das Bühnenbild, als hätte es ein Eigenleben. Oder als wirke da die Göttin Diana. Dazu ertönt  schaurig-düstere Musik, Bässe wummern, Trommeln schlagen. Ronald Kropf hat sich einiges überlegt in Licht und Ton. So entsteht schauervolle Düsternis, eine ganz plastische Ahnung von Gefahr. Was im Publikum eine Spannung erzeugt, die greifbar wirkt. Förmlich hypnotisieren kann einen der Wahn Orests: René Carrié ringt auf Knien mit den Dämonen seiner Schuld.

Mafiosi statt edle Wilde

Den beiden Wilden Arkas (Oliver Hepp) und Thoas (Martin Betz) möchte man nicht im Dunklen begegnen, mit ihren blau geschminkten Gesichtern, über die sich schwarzes Geäder schlängelt. Wie Stammestätowierungen sieht das aus. Dazu Ringe, Ketten und offene Hemden. In ihren strahlend weißen Anzügen wirken sie  wie Gangster. Sie sprechen übrigens auch wie Gangster: Ein knurrend drohender Unterton ist immer da. Wenn sie Dankbarkeit von Iphigenie einfordern, klingt das, als treibe die Mafia eine Gegenleistung für einen ominösen Gefallen ein.

Bei der Auswahl der Kostüme  bleibt die Studiobühne konventionell. Avantgarde wäre es, zum faltenreichen Gewand der klassischen Antike zurückzukehren. Allein, man bleibt bei weißem Anzug und - für das  Freundesgespann des Orestes und Pylades - bei Winter-Flecktarn.

Ein Freund, ein guter Freund

Überzeugend gibt Sascha Retzlaff den treuen Freund, der den geliebten Orest vorm eigenen Wahn erretten will. Wenn er den traumatisierten Orest umhegt und sorgenvoll aus Rehaugen betrachtet, nimmt man ihm die Sorge ab. Kurz vergisst man, dass hier gespielt wird.

Insgesamt aber ist diese Inszenierung eines anspruchsvollen Klassikers eine reife Leistung. "Iphigenie auf Tauris" bleibt ein anstrengendes Stück. In der Studiobühne aber aus den richtigen Gründen: Man kann nachdenken, über sich selber, über den Barbaren in sich, die dünne Schicht des Zivilisationsfirnis. Anstrengend - aber spannend.