Goethes Erben: Bitterböse Ohrwürmer

Von Udo Meixner
Seit fast 30 Jahren prägt Oswald Henke die Schwarze Szene in Deutschland mit – 1989 gründete er in Bayreuth Goethes Erben. Derzeit ist die Band auf Deutschlandtournee. Unser Bild zeigt Sänger Oswald Henke bei den Proben in der Alten Spinnerei in Kulmbach. Fotos: Udo Meixner Quelle: Unbekannt

BAYREUTH. „Am Abgrund“ – der Titel des neuen Albums von Goethes Erben lässt viel Platz für Interpretationen. Denn wer, bitteschön, steht am Abgrund? Und wen oder was symbolisiert die gefährlich nahe an einer Steilklippe tänzelnde Figur auf dem Plattencover? Oswald Henke, Sänger der Band Goethes Erben, gewährt im Gespräch Einblicke in seine Gedankenwelt. Mal nachdenklich-analytisch, mal zornig-zynisch: „Wir schenken dem Schmerz von Menschen die Worte, die sie selbst vielleicht nicht finden. Deshalb kann auch jeder unsere Stücke anders interpretieren und sich in den Texten wiederfinden.“

 
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„Besonders nahe am Abgrund steht derzeit Deutschland, wenn man sich die politischen Entwicklungen der letzten Monate so anschaut“, sagt Oswald Henke. Und weiter: „Wer hätte gedacht, dass so etwas noch einmal möglich ist? Dass ein Vokabular in den Bundestag Einzug hält, das 1933 gang und gäbe war, aber das in der Gegenwart nichts zu suchen hat.“ „Am Abgrund“ ist deshalb vielleicht das düsterste Album seit den Anfängen von Goethes Erben. Gleichzeitig das politischste: „Konnte sich vor 15 Jahren jemand vorstellen, dass wir uns je wieder mit Führerfiguren wie Trump, Erdogan oder Putin auseinandersetzen müssen?“

Ein Song, der auf der Platte heraussticht, ist „Darwins Jünger“. Er wartet, im Gegensatz zu vielen anderen filigran-verspielten Goethes-Erben-Songs, mit harten und treibenden Gitarrenriffs auf. Oswald Henke erklärt: „Wir haben dazu ein Video gedreht, das ziemlich krass in der Bebilderung ist. Darin haben wir die Hypothese aufgestellt: Was wäre, wenn Gott noch einmal die Welt retten wollte und noch einmal sein armer Sohn auf die Erde zurückkehren würde – wie würde er das Problem diesmal lösen? Vielleicht würde er erst einmal alle Menschen beseitigen und dann, um die Erlösung zu finden, muss er wahrscheinlich in die Hölle dafür. Das wäre dann seine Selbstopferung.“

Darwins Jünger - Das offizielle Video auf Youtube

Bitterböse kommt auch der Song „Lazarus“ daher: Dem Lied liegt das biblische Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus zugrunde. Der kranke und arme Lazarus liegt vor der Tür eines reichen Mannes und begehrt nur die Brocken, die von dessen reicher Tafel herabfallen, während Hunde seine Geschwüre lecken. Bei Goethes Erben ist „Lazarus“ eine Metapher auf Europa: Der reiche Mann ist Europa, der arme Lazarus steht für die Flüchtlinge. „Ich bin ein politischer Mensch, aber auch kreativer Mensch“, sagt Oswald Henke zu seiner Motivation. „Ich finde, Künstler haben eine Gewissensfunktion in der Gesellschaft. Der Künstler hat Dinge aufzugreifen, die die Gesellschaft berühren oder auch das Gewissen. Es gehört dazu, erst die Hand in Salz zu tauchen und dann den Finger in die Wunde zu legen.“

Schon sehr früh machten Goethes Erben beispielsweise negative Erfahrungen mit Neonazis: Am 15. September 1995 versuchten etwa 50 Skinheads, ein Konzert der Band in Jena zu stürmen. Die Polizei reagierte schnell, es gab 31 Verhaftungen. In Songs wie „Die Brut“ verarbeitete Oswald Henke schon frühzeitig seine düsteren Visionen: „Erst verfolgt man die, die anders sprechen, dann die mit den dunklen Haaren, dann die, die anders denken – genau so funktioniert jede Diktatur und jeder faschistische Staat.“

2006 kündigten Goethes Erben an, eine Pause von unbestimmter Dauer einzulegen – 2007 spielte die Band drei Abschiedskonzerte in Berlin. 2014 dann wurde die Idee geboren, wenigstens das 25-jährige Bestehen der Band zu feiern. In Leipzig gab es deshalb eine sehr aufwendige Inszenierung mit zwei Flügeln, Streichern und Tänzern. „Dabei wuchs die Lust, wieder etwas Neues zu machen“, erinnert sich Henke. Es folgten das Musiktheaterstück „Menschenstille“, einige Festival-Shows und eine kleine Tournee. Am Ende stand der Entschluss, wieder ein neues Album aufzunehmen. Als Comeback sieht Henke dies nicht – schließlich sei die Band nie richtig weg gewesen.

Im Gegensatz zu früheren Auftritten hat Oswald Henke die Besetzung der Band halbiert. Denn es wurde auf dem neuen Album sehr viel Elektronik verwendet und die Band verfolgt auf der Bühne ein neues Konzept. „Wir sind erstmals live mehr Techniker als Musiker.“ Neben Henke stehen nur drei Mitstreiter auf der Bühne – Tobias Schäfer (Keyboards), Tom Rödel (Gitarre/Keyboards) und der Kulmbacher Markus Köstner am Schlagzeug.

Das Album „Am Abgrund“ mit zehn Songs erscheint auf dem Plattenlabel „Dryland“, Oswald Henke behält aber alle künstlerischen Fäden in der Hand. Zum Beispiel, was das Plattencover angeht oder die Koordination der Werbung. Zudem hat Henke entschieden, dass es seine Musik nicht als Download gibt und auch nicht bei Streamingdiensten im Internet. „Da verdienen die falschen Leute mit, deshalb lehne ich das ab.“ Ähnlich verhält es sich mit den Vertriebskanälen für das neue Album: „Ich habe verhindert, dass unsere CD bei Saturn, im Media-Markt oder in Drogeriemärkten erhältlich ist.“ Oswald Henke geht an dieser Stelle noch einmal kurz in sich und manifestiert: „In einem Drogeriemarkt hat meine Musik nun wirklich nichts verloren!“

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